Aktionsforschung bezeichnet ein breites Feld von Forschungsansätzen – von Modellen aus der Organisationsentwicklung oder dem Management über Forschung durch Praktiker_innen in Bildungsinstitutionen, Gesundheitswesen oder Sozialarbeit bis zur kollektiven Wissensproduktion im Kontext von politischer Organisierung und Aktivismus. Zwei generelle Charakteristiken lassen sich in der Heterogenität der Ansätze herausstellen:
1. Aktionsforschung bedeutet eine Verschiebung oder Erweiterung der Position der Forschenden: Es wird in Frage gestellt, dass Forschung lediglich durch akademisch ausgewiesene Wissenschaftler_innen betrieben werden kann. In Modellen der Aktionsforschung wird Forschung zentral von denjenigen betrieben, die Akteure im zu untersuchenden Feld sind, z.B. im Kontext Schule von Lehrpersonen und/oder Schüler_innen.
2. Aktionsforschung begreift das Handeln, die Veränderung im untersuchten Feld als wesentlichen Teil des Forschungsprozesses. Charakteristisch ist ein zyklischer Forschungsprozess, in dem die Forschungsfragen aus Reflexion über die Praxis/Ausgangssituation generiert werden. Ziel der Untersuchung ist eine verändernde Handlung im Forschungsfeld, die erneut reflektiert werden und somit einen weiteren Forschungszyklus anstossen kann.
Modelle der Aktionsforschung stellen damit die Unterscheidungen zwischen Praxis und Forschung, zwischen Forschenden und Beforschten, zwischen Analyse und Eingriff in Frage und machen die Grenzen des wissenschaftlichen Betriebes durchlässig.
Jede Form der Forschung umfasst im Grunde ein «Aktions»-Element: sie hat immer Effekte in dem Feld, das untersucht wird (auch das Führen von Interviews ist ein Eingriff in eine soziale Situation). Aktionsforschung wird mit dem Ziel betrieben, bewusst in dem untersuchten Setting neue Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln. Das Ziel der Veränderung der Praxis bedeutet, dass Forschung nicht bemüht ist, neutral zu beobachten, sondern die Position vertritt und anstrebt, konkrete Veränderungen anzustossen.
Aktionsforschung im Bildungsbereich
Als «Practitioner Research», «Educational Action Research», «Co-operative Inquiry», «Action Inquiry» oder, im deutschsprachigen Raum, «Teamforschung» sind Ansätze der Aktionsforschung bekannt, die im Bildungswesen oder in sozialen Berufsfeldern angewandt werden. Gemeinsam ist den heterogenen genannten Ansätzen, dass sie auf Problemlösung und Transformation durch die Erforschung von im Arbeitsalltag entstehenden Fragen durch professionell Handelnde, allein oder im Team, setzen – wie im Fall von Lehrpersonen, die ihren eigenen Unterricht erforschen, oder Vermittler_innen, die durch einen forschenden Zugang Fragestellungen im Arbeitsfeld zu klären und zu verändern versuchen. Zentral für diese Ansätze ist die Aufwertung des Wissens von PraktikerInnen gegenüber ausserhalb der konkreten Arbeit generiertem «ExpertInnenwissen». Sie stellen die Wissensproduktion von professionell Handelnden und ihre Möglichkeiten der kritischen Analyse und Aktion ins Zentrum und grenzen sich damit von erziehungswissenschaftlicher Forschung ab, die von aussen Wissen über/für die Praxis produziert. Ein wesentlicher historischer Referenzpunkt der Aktionsforschung im Bildungswesen ist die Teacher-as-Researcher-Bewegung im England der 1960er-Jahre. Lawrence Stenhouse machte im Humanities Curriculum Project (1967–72) durch Lehrer_innen betriebene Forschung zum Ankerpunkt von Curriculumsreform und professionellem Unterricht:
«Kurz gesagt, das hervorstechende Merkmal des Professionellen ist die Kapazität für autonome berufliche Weiterentwicklung durch systematisches Studium der eigenen Arbeit, durch das Studium der Arbeit anderer LehrerInnen und durch die Überprüfung pädagogischer Ideen durch Forschung im Klassenzimmer.»(Stenhouse 1995: 144)
Partizipatorische Aktionsforschung
Vom Fokus auf professionelles Handeln unterscheidet sich eine weitere Tradition der Aktionsforschung: Participatory Action Research (PAR). PAR verortet häufig ihre Tradition in Modellen der Aktionforschung im globalen Süden, die als Ziel den Kampf gegen Unterdrückung formulieren (Herr/Anderson 2005, S. 15f.). Partizipatorische Aktionsforschung habe sich, so Mary Brydon-Miller und Patricia Maguire, zur selben Zeit an unterschiedlichen Orten der Welt entwickelt – u.a. in Indien, Tansania, Kolumbien und den USA:
«[T]he development of PAR was shaped by three trends, including: the post-colonial re-conceptualization of international development assistance (Frank 1973; Furtado 1973); the reframing of adult education as an empowering alternative to banking education (Freire 1970; Nyerere 1969); and critiques of positivist social science research and its claim to supposedly values-free knowledge production (Fay 1975; Kuhn 1970; Mills 1961; Popkewitz 1984).» (Brydon-Miller/Maguire 2009, S. 80f.)
Orlando Fals Borda, einer der wesentlichen Exponenten der partizipatorischen Aktionsforschung in Lateinamerika ab den 1970er-Jahren, definiert Participatory Action Research als Zusammenwirken von Forschung, Erwachsenenbildung und politischer Aktion. Er schreibt: «In this connection, people’s power may be defined as the capacity of grass-roots groups, which are exploited socially and economically, to articulate and systematise knowledge (both their own and that which comes from outside) in such a way that they can become protagonists in the advancement of their society and in defence of their own class and group interests.» (Fals Borda 1987, S. 330).
Lassen sich diese beiden Traditionen auch historisch unterscheiden, ist aktuell PAR ebenso Referenz für Forschungsprojekte in der Bildung, etwa in der Forschung mit Schüler_innen.
Denn eine häufige Kritik innerhalb der Aktionsforschung in der Bildung betrifft die Frage, wem die Forschung nutzen soll, und wendet sich gegen eine einseitige Konzentration auf das Wissen und die Perspektiven der professionell Handelnden. So kritisiert Stephen Kemmis, der gemeinsam mit Wilfred Carr Ende der 1980er-Jahre mit Becoming Critical ein einflussreiches Modell kritischer Aktionsforschung publiziert hat (1986) jene «[action research] that understands the improvement of practice only from the perspectives of professional practitioners (like teachers, nurses or managers), without genuinly engaging the voices and perspectives of others involved in the practice (like students or families or community members, in the case of action research in schools; or patients and their families, in the case of health; or, in general, the perspectives of clients and communities). By excluding the voices and active participation (in the conduct of the research), this action research privileges the voices, and frequently the norms and institutions, of professionals over the voices and views of others involved in and affected by professional practices.» (Kemmis 2006, S. 460).
Kritische Aktionsforschung muss in diesem Sinn jeweils in ihrer methodischen Anlage die Frage mitdenken, was eine «Verbesserung» der Praxis ist, wer sie definiert und wer davon profitieren soll.
(Dieser Eintrag basiert mehrheitlich auf Landkammer 2012)
Literatur
- Altrichter, Herbert und Peter Posch: LehrerInnen erforschen ihren Unterricht. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, 2007.
- Appadurai, Arjun, «The right to research», in: Globalisation, Societies, and Education, 4 (2), 2006, S. 167–177.
- Brydon-Miller, Mary und Maguire, Patricia, «Participatory action research. Contributions to the development of practitioner inquiry in education», in: Educational Action Research, 17(1), 2009.
- Carr, Wilfred und Kemmis, Stephen, Becoming Critical. Education, Knowledge and Action Research, Victoria: Deakin University Press, 1986. https://enotez.files.wordpress.com/2011/09/becoming-critical.pdf (zuletzt aufgerufen: 24.3.2017)
- Fals Borda, Orlando, «The Application of Participatory Action-Research in Latin America», in: International Sociology, Nr. 2, 1987.
- Herr, Kathryn und Anderson, Gary L.: The Action Research Dissertation. A Guide for Students and Faculty, Thousand Oaks/London/New Delhi: Sage, 2005.
- Landkammer, Nora: Vermittlung als kollaborative Wissensproduktion und Modelle der Aktionsforschung. In: Bernadett Settele, Carmen Mörsch et al. (Hg.): Kunstvermittlung in Transformation, Zürich: Scheidegger&Spiess, 2012.
- Stenhouse, Lawrence: An Introduction to Curriculum Research and Development. London: Heinemann, 1995.
- Wadsworth, Yoland: What is Participatory Action Research?, Action Research International, Paper 2, 1998. www.aral.com.au/ari/p-ywadsworth98.html (zuletzt aufgerufen: 24.3.2017)
Forschungsprojekte:
- Taylor, Barbara (Hg.): Inspiring Learning in Galleries. London: engage, 2006.
- Taylor, Barbara (Hg.): Inspiring Learning in Galleries 02. 2. Bd., London: engage, 2008.
- Settele, Bernadett, Carmen Mörsch et al. (Hg.) Kunstvermittlung in Transformation. Zürich: Scheidegger & Spiess, 2012.
- Tricks of the Trade, www.tricksofthetradeproject.info (zuletzt aufgerufen: 24.3.2017).
- Tate Encounters, www.tate.org.uk/about/projects/tate-encounters (zuletzt aufgerufen: 24.3.2017).
- Mörsch, Carmen/Forschungsteam der documenta 12 Vermittlung (Hg.): Kunstvermittlung II. Zwischen kritischer Praxis und Dienstleistung auf der Documenta 12 Ergebnisse eines Forschungsprojekts. Berlin/Zürich: diaphanes, 2009.
- FLAKS
- Kalkül und Kontingenz