Dekonstruktive Pädagogik ist eng verbunden mit der kritischen Pädagogik, lässt sich jedoch von einem (noch) komplexeren Subjektverständnis leiten. Sämtliche Kategorien und Normen zur Einordnung von Individuen – so auch das körperliche Geschlecht oder die Farbe der Haut oder eine «Behinderung» – werden als sozial konstruiert und eben nicht als naturgegeben verstanden. Das heisst in der Konsequenz zum Beispiel, dass sich Handlungen und Einstellungen eines Subjekts nicht über die Zuordnung zu identitären Kategorien – zum Beispiel zu der Kategorie «Mann» – erklären und rechtfertigen lassen. Ins Zentrum rückt stattdessen die Untersuchung der jeweiligen Faktoren und Verhältnisse, die solche Kategorien überhaupt erst als unveränderbare Wahrheit («Männer sind eben so») erfahrbar und behauptbar werden lassen, sowie das Sprechen und Handeln, welches diese herstellt und beständig aktualisiert («sei ein Mann»). Da alle Subjekte mit ihren Handlungen immer an der Herstellung und Aktualisierung dieser Kategorien und damit an Subjektivierungsprozessen beteiligt sind, kann es kein autonomes, das heisst kein selbstbezogenes und sich selbst hervorbringendes Subjekt geben.
Mit der Absage an die Idee eines autonomen Subjekts problematisiert die dekonstruktive Pädagogik das Paradigma des emanzipierten, befreiten Subjekts aus der kritischen Erziehungswissenschaft. Sie setzt der Idee von Befreiung wiederum ein (noch) komplexeres Verständnis von Macht entgegen: Macht ist hier eine Komponente, die alle Subjekte immer durchdringt. Es ist daher unmöglich, sich ausserhalb der Macht zu begeben, sich von ihr «zu befreien» und gänzlich «selbstbestimmt» zu werden.
Unter der Voraussetzung dieser Vorstellungen von der Verfasstheit von Subjekten und von Machtverhältnissen fragt die dekonstruktive Pädagogik danach, wie Kritik und Emanzipation dennoch möglich seien. Denn auch wenn es keine Befreiung von Macht geben kann, so bleiben doch die Befreiung von Herrschaft und die Herstellung von Gerechtigkeit erstrebenswerte Ziele.
Eine mögliche Antwort der dekonstruktiven Pädagogik liegt in dem Vorschlag, die Analyse und Veränderung der Faktoren, Verhältnisse, Sprechakte und Handlungen, welche Kategorien zur Einordnung von Subjekten festschreiben und so Herrschaftsverhältnisse begründen und fortsetzen, in das Zentrum der pädagogischen Arbeit zu rücken. Eine weitere mögliche Antwort ist, die Ansätze der kritischen Pädagogik nicht aufzugeben, sondern sie durch eine stärkere Betonung von Suchbewegungen, Um- und Abwegen, Verlust von Kontrolle, produktiver Selbstverunsicherung, Hinterfragung von eigenen Privilegiertheiten, Lernzielen und -inhalten und anderen bislang unhinterfragten Selbstverständlichkeiten sowie durch eine kontinuierliche Bearbeitung der pädagogischen Beziehungen zu erweitern.
Queere Pädagogik teilt diese Konzepte, fokussiert jedoch insbesondere auf die Konsequenzen der Heteronormativität. Sie arbeitet an produktiven Verknüpfungen von kritischer Pädagogik und Queer-Theorie: Sie untersucht und hinterfragt vor diesem Hintergrund das Verhältnis von Lehrenden und Lernenden. Das heisst zum Beispiel: sie fragt nach der strukturierenden Rolle des Begehrens und der Erotik sowie von Identitätskonstruktionen im Lehr- und Lernprozess; nach der Rolle von Identitätskonstruktionen, nach der geschlechtlichen (heteronormativen) Verfasstheit von curricularen Strukturen und Inhalten.
Literatur
- Bryson, Mary und de Castell, Suzanne, Queer Pedagogy: Praxis Makes Im/Perfect, in Canadian Journal of Education / Revue canadienne de l'éducation, 18(3): Against the Grain: Narrative of Resistance 1993, S. 285–305.
- Fritzsche, Bettina/Hartmann, Jutta/Schmidt, Andrea und Tervooren, Anja, Dekonstruktive Pädagogik. Erziehungswissenschaftliche Debatten unter poststrukturalistischen Perspektiven, Opladen: Springer 2001.
- Lather, Patty, Getting Smart: Feminist Research and Pedagogy within/in the Postmodern. London/New York: Routledge 1991.
- Pinar, William F. (Hg.), Queer Theory in Education, London/New York: Routledge 1998.
- Karl-Josef Pazzini (Hg.): Wenn Eros Kreide frisst. Anmerkungen zu einem fast vergessenen Thema der Erziehungswissenschaft, Essen: Edition Hermes 1992.
- Plösser, Melanie, Dekonstruktion – Feminismus – Pädagogik: Vermittlungsansätze zwischen Theorie und Praxis. Königstein: Helmer Verlag 2005.
- Pongratz, Ludwig/Wimmer, Michael/Nieke, Wolfgang und Masschelein, Jan (Hg.), Nach Foucault: Diskurs- und machtanalytische Perspektiven der Pädagogik, Opladen: Springer 2004.
- Todd, Sharon: Learning Desire: Perspectives on Pedagogy, Culture, and the Unsaid. London/New York: Routledge 1997.
- Tuider, Elisabeth, Queer Theory und eine Pädagogik der Vielfalt, in: Ministerium für Frauen, Justiz, Jugend und Familie es Landes Schleswig Holstein. Pädagogik der Vielfalt. Konzepte gegen Diskriminierung und ihre praktische Umsetzung. Dokumentation eines Fachtages vom 21.3.2002 in Kiel im Rahmen des Projekts Difference Troubles, Kiel S. 40–42.