Der Begriff Performativität hat in den Kulturwissenschaften seit den 1990er-Jahren Hochkonjunktur: Sein Bedeutungsspektrum ist durch die Spannung zwischen den beiden Übersetzungen des englischen Verbs «to perform» angedeutet: ausführen und aufführen. Obwohl eine direkte Verbindung zu «performance» im Kunstfeld besteht, erklärt sich der Begriff in seiner aktuellen Verwendung am besten, wenn man ihn über seine sprachwissenschaftliche Geschichte erläutert: In der Linguistik hat Noam Chomsky (1965) die Unterscheidung zwischen Kompetenz und Performanz eingeführt. Erstere ist die Sprachkenntnis, zweitere, wie und was jemand tatsächlich spricht – also die Realisierung des «Kenntnissystems» der Sprache durch die Sprecher_innen. John L. Austin hat in seinem Buch «How to do things with words» (1961) diesem Nachdenken über Sprache und Sprechen eine weitere wichtige Ebene hinzugefügt. Nicht nur existiert «die Sprache», die die Welt beschreibt, ausschliesslich in der Performanz der Sprechenden, sondern bestimmte Formen sprachlicher Äusserungen verändern Zustände in der sozialen Welt. Austins Theorie der Sprechakte wurde in Philosophie und Kulturwissenschaften auf verschiedene Weise weitergedacht. Jacques Derrida (1972) hat unter anderem die wichtige Ebene hinzugefügt, dass performative Sprechakte nur funktionieren, weil sie eine Konvention zitieren, also Wiederholungen sind. Judith Butler (1991) hat Performativität für die Gender Studies bedeutend gemacht (wobei nun ihre Weiterentwicklung der Theorie wieder aus anderen Gebieten angeeignet wird). Der Ausruf «Es ist ein Mädchen!» nach einer Geburt ist demnach eine performative Äusserung. Auch die Subjekte, die performative Akte setzen, sind also Resultat performativer Äusserungen. Aber Geschlechtsidentität ist nicht nur durch diesen Akt performativ begründet, sie wird auch durch die Wiederholung von Praxen, die als «Mann sein» oder «Frau sein» historisch etabliert sind, (zwanghaft) immer neu aufgeführt. In der Wiederholung liegen aber auch der Handlungsraum des Subjekts und die Möglichkeit zur Subversion: Es ist möglich, nicht exakt zu wiederholen, Fehler in der Wiederaufführung zu machen und darüber Verschiebungen zu produzieren. Durch diese Weiterentwicklung löst sich das Konzept der Performativität von der Einschränkung auf sprachliche Akte und verbindet sich wieder mit dem Bedeutungsfeld «performance» – Aufführung, verknüpft mit «Theatralität». Performativität beschreibt demnach, dass Wirklichkeit durch die (Wieder-)Aufführung von historisch gewachsenen Handlungsmöglichkeiten hergestellt wird.
(Nora Landkammer)
Performativitätstheorien haben eine besondere Relevanz in Hinblick auf Bildungsprozesse, da Bildungsprozesse in soziale Strukturen eingebettet sind und in rituellen Arrangements stattfinden, womit die verbreitete Reduzierung von Allgemeinbildung (einschliesslich der Kulturellen Bildung) auf individuelle Bildung eine Korrektur erfährt. In den Sozial- und Erziehungswissenschaften werden seit einigen Jahren verstärkt Untersuchungen unternommen, die den ‹Aufführungen der Gesellschaft in Spielen› oder der ‹performativen Bildung von Gemeinschaften in Ritualen› nachgehen und mittels qualitativer Methoden die mimetischen Prozesse sichtbar machen, in denen sich das Soziale konstituiert. Dieser Ansatz wäre für eine Untersuchung der Bildungsprozesse künstlerischer Arbeit mit Kindern und Jugendlichen innerhalb institutioneller Zusammenhänge zu erproben. Grundlage dafür ist die Annahme, dass unter einer kontextbezogenen Sichtweise die Arbeit mit künstlerischen Strategien innerhalb der kulturellen Bildung auch als ein Prozess beschrieben werden kann, der auf die Konstruktion – die Er/Findung – und Übung von Gesten und Handlungen ausgerichtet ist, die sich von den Körperinszenierungen, Gesten und Handlungen der Kinder und Jugendlichen, wie sie im jeweiligen konkreten Umfeld (z. B. der Schule) gültig sind, sowohl unterscheiden als auch vielfältig auf diese beziehen. Kulturelle Bildung wäre damit verallgemeinert auch als temporäre Etablierung ‹künstlicher Rituale› zu betrachten.
Literatur
- Austin, John, How to Do Things with Words, Cambridge M.A.: Harvard University Press 1961; dt. Zur Theorie der Sprechakte, Stuttgart: Reclam 1972.
- Butler, Judith, Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991.
- Chomsky, Noam, Aspects of the Theory of Syntax, Cambridge M.A.: MIT Press 1965.
- Derrida, Jaques, Signatur Ereignis Kontext, in: Limited Inc. Übers. von Werner Rappl unter Mitarbeit von Dagmar Travern, Wien: Passagen, 2001 [1972], S. 15–45.
- Fischer-Lichte, Erika et al., 1999 eingerichteter DFG-Sonderforschungsbereich «Kulturen des Performativen» mehr Informationen (zuletzt aufgerufen 27.3.2017).
- Kormos, Ildiko, Geschlechtsidentität und Performativität, in: Trans Internet Zeitschrift für Kulturwissenschaften Nr. 15 2003, (zuletzt aufgerufen: 27.3.2017).
- Mörsch, Carmen/Pinkert, Ute, Transformative Wirkung künstlerischer Strategien in sozialen Feldern: Ein historischer Rückblick und die Ankündigung eines Forschungsprojekts, in: Kirschenmann, Johannes/Schulz, Frank/Sowa, Hubert (Hg.): Kunstpädagogik im Projekt der allgemeinen Bildung. Band 7 der Schriftenreihe Kontext Kunstpädagogik, München: kopaed 2006.
- Seier, Andrea, Remedialisierungen. Zur Performativität von Gender und Medien, Dissertation, Bochum: Ruhr-Universität Bochum 2005 (zuletzt aufgerufen: 27.3.2017).
- Wirth, Uwe (Hg.), Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002.