Einen Blick, der unserem Sehen zuwiderläuft und sich so dem freien Zugriff des Subjekts widersetzt, hatten bereits Jean-Paul Sartre (L’être et le néant, 1943) und Jacques Lacan (Les quatre concepts fondamentaux de la psychanalyse, 1964) vorgestellt. Im Anschluss wurde dieser gegenwendige Blick im Zuge des pictorial turn von Autoren wie Georges Didi-Hubermann (Ce que nous voyons, ce qui nous regarde, 1992) und W. J. T. Mitchell (What do Pictures Want?, 2005) für ästhetische Fragestellungen expliziert. Eine solche Ästhetik der Blickwendung, die von einem Anderen ausgeht, das mich in meinem Sehen erblickt, stellt mich infrage. Doch was und wie muss ich dem mir Begegnenden antworten? Wie muss ich mich verhalten angesichts einer Alterität, die mich im Bild angeht?
Eine mögliche Antwort findet sich bei Emmanuel Lévinas, dessen Subjekt einem transzendenten, absolut Anderen verantwortet ist, welches ihm im Antlitz des anderen Menschen sich-entziehend begegnet. Lévinas hat sich zwar nur vereinzelt zu ästhetischen Fragen geäußert, seine Ethik ist ohne ein aisthetisches Moment als Einbruchstelle der Transzendenz gleichwohl undenkbar. So beschreibt denn auch die »Sensibilität« (sensibilité) bei Lévinas eine körperliche Ausgesetztheit des Subjekts im Angesicht einer unfassbaren Alterität.[1] Sie kann als Einsatzpunkt einer Ästhetik dienen, welche eine unendliche Verantwortung (er-)trägt. Ethik geht demnach der Ästhetik voraus – oder, vielmehr: »Ethik und Ästhetik sind Eins«, wie Wittgenstein sagt.[2] Die Frage nun, welche Haltung eine Ästhetik im Anschluss an Lévinas’ Ethik von mir einfordert, soll im Rahmen der Promotionsarbeit untersucht werden.
Ein solches Vorhaben muss sich zunächst der Schwierigkeit zuwenden, dass das absolut Andere keine Einfallsstelle findet in einer Synthesisstruktur der verstehend-auslegenden Wahrnehmung »von etwas als etwas«, wie sie die hermeneutische Phänomenologie vorsieht.[3] Der Versuch wird hier unternommen, unter dem Terminus des Auffalls ein der Wahrnehmungsstruktur konstitutives Moment zu denken, in dem die Unendlichkeit ins Sinnliche einfällt. Mit dem Auffall ist einerseits jener Augenblick markiert, in dem das Unmerkliche merkwürdig und also im transzendentalen Bewusstsein als etwas erfasst wird. Andererseits zeigt sich, was mir auffällt – quer zur Heidegger’schen »Ent-fernung« –, selbst bzw. gerade in nächster Nähe nur als unüberwindbare Distanz.[4] Was sich hier in einem »Fast-Nichts« (presque rien) ereignet, fragt nach einer Ästhetik der »Passibilität« (Mayer) oder »Responsivität« (Mersch), die sich dem Widerfahrnis des Anderen aussetzt.[5] Eine solche Ästhetik als »Verwandlung des Bezugs« ist – jenseits der Aktivität oder Passivität der Praxis – Haltung.[6] Der Auffall verweist also auf eine sich entziehende Grenze, die als absolute Trennung mich zum Anderen in Beziehung setzt. Eine solche Grenze ist, in konsequenter Überführung der Lévinas’schen Ethik in die Ästhetik, zu begreifen als absolute Scheidung von Immanenz und Transzendenz, als bloße »Nicht-Indifferenz« und als Moment einer paradoxalen »Beziehung ohne Beziehung« zum Anderen.[7]
Als ihr Schatten führt der beschriebene Themenkomplex das Problem der Sagbarkeit des Unsagbaren mit sich. Wenn meine Beziehung zum Anderen nämlich unverhältnismäßig ist, wie kann ich sie dann trotzdem geltend machen, ohne das Andere im Gesagten zu thematisieren und damit der Totalität des Seins zu unterstellen? Gesucht ist folglich ein Sagen der Transzendenz, das sich in der unvermeidlichen Thematisierung dem Sinn versagt.[8] Die vorliegende Untersuchung folgt der These, dass dieses Sagen nur im Modus der Bezeugung – nicht-metaphorisch und verkörpernd – erfolgen kann und dies einzig aus einer Position radikaler Subjektivität.[9] Die Lektüre Lévinas’ zeigt, dass in einem derartigen Sagen, das sich keinen Außenstandpunkt leistet, Theorie und Praxis verschmelzen.[10] Ethik muss vollzogen werden – von mir, der ich vorgeladen bin zu antworten.[11]
Der hier skizzierte Fragenkomplex soll ausgehend von den Schattenriss-Arbeiten Kara Walkers untersucht und mögliche Erkenntnisse an diesen überprüft werden. Weshalb Kara Walker? Ihr Werk hat erstens exemplarischen Charakter, da sich hier die ethische Fragestellung in ausgezeichneter Dringlichkeit zuspitzt; an ihren Arbeiten lässt sich die Problematik hermeneutischer, semiotischer wie ikonischer Zugänge zum Bild aufzeigen. Zweitens wird am Schattenriss modellhaft die Unverfüglichkeit eines ausgeschlossenen Dritten in der Wahrnehmungsstruktur anschaulich. Drittens aber, und das ist der eigentlich relevante Punkt, ist das Promotionsvorhaben motiviert durch die Arbeiten Kara Walkers, weil diese mich angehen.
[1] Vgl. Lévinas, Emmanuel (2011): Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht (3. Aufl. d. Studienausgabe, 4. Gesamtaufl., übers. v. Thomas Wiemer). Freiburg/München, Karl Alber: 131.
[2] Vgl. Wittgenstein, Ludwig (1993): Tractatus logico-philosophicus (Werkausgabe, Band I, 9. Aufl.). Frankfurt a. M., Suhrkamp: 82f.
[3] Vgl. Heidegger, Martin (2006): Sein und Zeit (19. Aufl.). Tübingen, Max Niemeyer: 149.
[4] Zur Ent-fernung, vgl. ebd.: 105–107; zum Sichzeigen, vgl. Mersch, Dieter (2002): Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis. München, Fink.
[5] Zum Fast-Nichts, vgl. ebd.: 72, 148, 202, 204, 380; zur Ästhetik der Passibilität, vgl. Mayer, Michael (2012): Humanismus im Widerstreit. München, Fink: 71–96; zur Passibilität, vgl. auch: Lyotard, Jean-François (1989): Das Inhumane. Plaudereien über die Zeit. Passagen, Wien: 169f, 190–195, 202–205, 240f.; zur Ästhetik der Responsivität, vgl. Mersch, Dieter (2010): Posthermeneutik. Berlin, Akademie: 201–308.
[6] Zur »Verwandlung des Bezugs«, vgl. Mersch 2002: 26, 36, 398.
[7] Vgl. Lévinas, Emmanuel (1993): Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität (2. Aufl.). Freiburg/München, Karl Alber: 110, 139.
[8] Vgl. ebd.: 332.
[9] Bezeugt wird hier nicht eine metaphysische Präsenz, sondern die Verantwortung, die Nähe, die Beziehung zum Anderen in der Bedeutung des Der-Eine-für-den-Anderen; vgl. dazu Lévinas, Emmanuel (2011): Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht (3. Aufl. d. Studienausgabe, 4. Gesamtaufl., übers. v. Thomas Wiemer). Freiburg/München, Karl Alber: 319–333.
[10] Vgl. Lévinas 1993: 32.
[11] Vgl. Wittgenstein, Ludwig (2012): Vortrag über Ethik. Frankfurt a. M., Suhrkamp: 18f.