Das Forschungsprojekt, das sich als Beitrag zu der seit langem vernachlässigten
Kategorie Form im Felde der Neuen Musik versteht, fokussiert einen bislang kaum
erforschten und weithin unterschätzten Teilaspekt musikalischer
Form-Konstituierung: nämlich jenen Bestand von Werken, die unter dem Begriff
„Polywerke“ rubriziert werden können. Polywerke bestehen aus mindestens zwei
Werken, die sowohl einzeln als auch in einer simultanen Fassung aufführbar sind. Der
Kerngedanke der Polyphonie, einzelne selbständige Linien in einem mehrstimmigen
Satz zu vereinen, wird in der Idee des Polywerkes auf ganze Werke und Werkteile
übertragen. So erfährt eine im Kontext eines Polywerkes geschaffene Komposition
ausserhalb ihrer in sich geschlossenen selbständigen Existenz eine zusätzliche formale
Kontextualisierung in einer simultanen Disposition. Namhafte KomponistInnen wie
etwa Luciano Berio, Chaya Czernowin, Julio Estrada, Vinko Globokar, Georg Friedrich
Haas, Adriana Hölszky oder Klaus Huber, also Persönlichkeiten aus sehr
unterschiedlichen Ländern und mit durchaus verschiedenen ästhetischen
Erfahrungshorizonten, haben Polywerke komponiert. Ihre in den letzten 50 Jahren
entstandenen Werke, die das Konzept der Synchronisierung mindestens zweier Werke
umsetzen, sind mit ihren Potenzialen bislang kaum wissenschaftlich untersucht. In
diesem Forschungsprojekt soll dies erstmals in umfassender Weise geschehen und auf
der Basis eingehender Analysen erörtert werden, welche musikhistorische,
-theoretische und -ästhetische Bedeutung diesen Strategien von Polywerken zukommt,
welche komposito-rischen Möglichkeitsräume dabei relevant sind und in welcher Weise
dieser facettenreiche Bestand von Werken dazu angetan sein kann, die Kategorie der
Form in der Neuen Musik in vertiefter Weise – und unter neuen Blickwinkeln – zu
betrachten. Kernziel des Projekts ist es, eine Theorie der Werk-Polyphonie aufzustellen,
die die verschiedenen kompositionstechnischen Strategien und ästhetischen
Leitgedanken auszuloten und in Beziehung zu setzen vermag, um sie zugleich mit
grundsätzlichen Erwägungen zu diesem wichtigen Themenfeld zu verbinden. Ein
weiteres Ziel des Ganzen liegt darin, im Schaffen eines Grossteils der hier in Rede
stehenden KomponistInnen wichtige Spezifika, denen sich die Musikwissenschaft trotz
ihrer erheblichen Bedeutung im Spektrum der Gegenwartsmusik bislang zumeist
erst in Ansätzen widmete, adäquat zu erfassen und zur Sprache zu bringen.