Ziel ist es, Hermann Obrist in der Jugendstil- und Lebensreformdebatte neu zu positionieren und sein singuläres Schaffen als wegweisend sowohl in Bezug auf die Kunst-, wie auch auf die Mediengeschichte zu verstehen. Obrists Werk ist Exempel für Grenzüberschreitungen zwischen freier und angewandter Kunst. Das Projekt unternimmt eine kritische Relektüre des künstlerischen Schaffens und Wirkens von Hermann Obrist an den Schnittpunkten zwischen Historismus, Jugendstil und Moderne.
Das Œuvre des Schweizers Hermann Obrist (1863–1927) stellt einen der bedeutendsten Beiträge zur Kunst der Jahrhundertwende dar. In der pulsierenden Münchner Kunstszene des ausgehenden 19. Jahrhunderts leistete Obrist den entscheidenden Beitrag zur Formulierung eines deutschen Jugendstils. Basierend auf handwerklichen Traditionen des Historismus strebte die neue Bewegung nach einer Umgestaltung des Kunstgewerbes und einer Zusammenführung der Künste. Die verschiedenen Bereiche seines Schaffens – Entwürfe für Stickereien und Möbel, Zeichnungen, Plastiken – und die schwierige Überlieferungslage haben dazu geführt, dass bis vor diesem Projekt keine umfassende Monografie zum Künstler vorlag und ein vorhandenes Werkverzeichnis als unvollständig gelten musste.
Im Zentrum des Projekts steht das plastische, dreidimensionale Werk von Hermann Obrist, das eine der wichtigsten Schweizer Beiträge zur gesamteuropäischen Jugendstilbewegung und der nachfolgenden Skulptur- und Architekturdebatte ist. Der damit verbundene Raumdiskurs und die Auseinandersetzung mit der neuartigen Rolle der Rezipient*innen sowie der daraus folgende ästhetische Paradigmenwechsel werden – zumindest aus der Perspektive des Münchner Jugendstilkreises – in diesem Forschungsprojekt erstmals eingehend untersucht. Es reagiert somit auf das seit einigen Jahren wieder rege Interesse an gattungsübergreifenden «Architekturskulpturen» und ihrer Beziehung zu einem naturnahen Aussenraum im Kontext von Land Art und Landschaftsarchitektur. Es wird gezeigt, dass die für Obrist zentralen Kategorien des «Raumplastischen», der «Architekturplastik» oder des «Gesamtkunstwerks» für die Kunst um 1900 und die nachfolgende Entwicklung fruchtbar waren.
Ausgehend von der Analyse eines grossen Korpus von Reproduktionsfotografien leistet das Forschungsprojekt nicht nur einen Beitrag an die Kunstgeschichte der Skulptur seit 1900 unter dem Vorzeichen der Gattungsverwischung, sondern auch einen solchen an die Medienkulturgeschichte. Zu diesem Zweck wird die Bedeutung der Fotografie bei der Kommunikation und Rezeption gerade von raumplastischen und ortsgebundenen Kunstwerken anhand eines Beispiels aus dem deutschsprachigen Raum exemplarisch dargestellt. Das grosse Gewicht, das Obrist dem Wort und dem Bild bei der Verbreitung seiner Ideen und Visionen zumass, ist Anlass für allgemeine Überlegungen.
Ziel des Projekts ist es, Hermann Obrist in der Jugendstil- und Lebensreformdebatte neu zu positionieren und sein singuläres Schaffen als wegweisend zu verstehen. Dass die künstlerische Bewegung der Jahrhundertwende von den lebensreformerischen Aktivitäten nicht zu trennen ist, zeigen jüngere Forschungen ganz deutlich. Obrists Werk kann als Exempel dafür gelten, wie grosse (Plastiken) aus kleinen Kunstformen (Stickereien) erwachsen, wie die Grenzen zwischen freier und angewandter Kunst überschritten und verwischt werden: Es lässt sich als ein in Skizzen, Modellen, Notizen, Schriften und dreidimensionalen Arbeiten formuliertes reformerisches Projekt lesen.