Paulina Zybinska und Marte Roel begegneten sich zum ersten Mal nachts im Museum für Gestaltung Zürich. Sie waren beide am Aufbau der Ausstellung «Planet Digital» beteiligt. Beim Debuggen der Software ihrer jeweiligen Arbeiten kamen sie ins Gespräch: über echte und falsche Erinnerungen und was unsere Wahrnehmung damit zu tun hat, über das Potenzial von Technologie und neuen Medien in therapeutischen Settings und über Deepfakes - ein Thema, das Schulen, Medien und Regierungen gleichermassen erschaudern lässt. Nach weiteren nächtlichen Diskussionen war für beide klar, dass Zybinska, die eben ihren Master in Interaction Design an der ZHdK abgeschlossen hatte, und Roel, Postdoc am Psychologischen Institut der Universität Zürich, in Zukunft zusammenarbeiten würden. Ein Jahr später wurde der gemeinsam mit Prof. Birgit Kleim von der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich und weiteren Forschenden eingereichte Förderantrag von der Digitalisierungsinitiative der Zürcher Hochschulen (DIZH) bewilligt.
Eine Frage der Perspektive
Traumatische Erfahrungen in der Kindheit begleiten die Betroffenen ein Leben lang. Therapien können unterstützend wirken, wenn Erinnerungen hochkommen und immer wieder dieselben Gefühle von Trauer und Verlust auslösen. Ein solches Setting ist der Ausgangspunkt des Forschungsprojekts «Die Auswirkungen von Deepfakes in Virtual-Reality-Szenarien für die Therapie psychischer Erkrankungen.» Anders als der lange Titel vermuten lassen könnte, geht es dabei nicht um die Umwälzung des Bestehenden, sondern um dessen subtile Erweiterung. «Die Frage der Perspektive ist für meine Arbeit grundlegend. Es geht darum, andere wahrzunehmen, ihre Emotionen anzuerkennen», sagt Roel, der in seiner Arbeit wissenschaftliche mit künstlerischen Methoden verschränkt. Ein therapeutischer Ansatz besteht darin, in den Dialog mit seinem kindlichen Selbst zu treten. Dafür gibt es unterschiedliche Herangehensweisen: in Form von Theater oder beispielsweise über ein Ritual. Oder - und das ist noch weitgehend ungenutzt - mithilfe von Technologien wie Deepfake und Virtual Reality. Sie sollen in Zukunft vor allem jenen Patient:innen helfen, denen die bildliche Vorstellung Mühe bereitet.
Von falschen und echten Erinnerungen
Der Raum wirkt karg. Einige leere Tische, an der Wand ein kaum genutztes Regal - wenig überraschend, dass das Büro, in dem Zybinska und ihr Team gemeinsam arbeiten, zuvor als Lager genutzt wurde. Mehr braucht es vielleicht gar nicht, wenn Ideen und Konzepte die virtuelle und weniger die physische Realität umkreisen. Angesprochen auf ihre Motivation, sprudeln Zybinskas Referenzen und Querbezüge nur so heraus. «In meiner Masterarbeit habe ich mich mit dem Phänomen der falschen Erinnerungen beschäftigt und es - ausgehend von Deepfakes - in einer Installation künstlerisch interpretiert. Besonders die Experimente von Elisabeth Loftus waren dafür ein wichtiger Bezugspunkt. Es geht prinzipiell darum, wie falsche Erinnerungen entstehen können, wenn dasselbe oft genug wiederholt wird und wenn andere sich darauf beziehen und die Erinnerungen bestätigen. In Gesprächen mit meiner Mutter habe ich herausgefunden, dass ich selbst glaubte, mich an Dinge zu erinnern, die so nicht stattgefunden haben.» Zybinska verweist auch auf Julia Shaw, die aus neuropsychologischer Warte über traumatisierende Erfahrungen forscht und argumentiert, dass die emotionalen Auswirkungen wichtiger seien als die Details. Es gehe nicht darum, ob sich etwas wirklich genau so abgespielt hat, sondern darum, welche Gefühle die Erinnerung daran auslöst.
Ein Fenster zwischen Gegenwart und Vergangenheit
Vor mir sitzt eine Puppe in Kindergrösse, auf ihre Stirn ist eine 360°- Kamera montiert. Zybinska tippt auf einer Tastatur, während die Psychologiestudentin Roxane Frund, für die kommenden Minuten in der Rolle der Therapeutin, mir letzte Anweisungen gibt. Obwohl ich mich nicht in Therapie befinde, bin ich zugegebenermassen etwas nervös. Ich soll mir die Puppe als mein jüngeres Selbst vorstellen, dem etwas Trauriges zugestossen ist. Und dann tröstende Worte dafür finden, die Puppe vielleicht auch umarmen. Die Kamera zeichnet alles auf. Kurze Zeit später ziehe ich die VR-Brille über und finde mich in einem anderen Raum wieder. Vor mir sitzt anstelle der Puppe ein Kind, dem eine KI-Anwendung, basierend auf einer tags zuvor hochgeladenen Fotografie, mein digitalisiertes kindliches Gesicht aufgesetzt hat - ein Deepfake also. Ich höre meine Stimme die eben aufgezeichneten Worte sprechen und sehe, wie das Kind mit den Füssen wippt und mit seiner Mimik zu reagieren scheint. Danach tauschen wir die Rollen: Ich sitze da, wo zuvor die Puppe war, und sehe beziehungsweise höre nun mein erwachsenes Selbst die tröstenden Worte sprechen. Eine Art Fenster zwischen Gegenwart und Vergangenheit tut sich auf, wenn auch nur kurz und ohne den entscheidenden Rahmen eines ausführlichen Gesprächs, das in einer wirklichen Therapiesitzung dazugehört. Das Forschungsprojekt, das den Begriff Deepfake positiv konnotiert, steht noch ganz am Anfang. Wenn alles gut geht, werden in einigen Jahren erste Patient:innen in der virtuellen Begegnung mit ihrem kindlichen Ich etwas Trost finden. Vergangenes Leid geht dadurch nicht vergessen, wird aber vielleicht etwas erträglicher.