Bacciagaluppi, Claudio (Hochschule der Künste Bern)
Meidhof, Nathalie (Hochschule der Künste Bern, HfM Freiburg)
Roberts, Claire (Hochschule der Künste Bern)
Zirwes, Stephan (Hochschule der Künste Bern)
Ramos, Luis (Hochschule der Künste Bern)
6.10.2019, 9.30–11.00 Uhr, Raum, 3.K01
Abstract
Eine epochale Wende fand zur Zeit der Institutionalisierung von öffentlichen und privaten professionellen Musikschulen während des langen 19. Jahrhunderts statt. Da Gehörbildung zu den elementaren Grundlagen der Musikausbildung zählt, wurde sie zum Teil vor dem Anfang eines Studiums am Konservatorium erlernt. Weil sie zudem grösstenteils nicht-verbale Fähigkeiten vermittelt, entwickelte sie keinen ausgearbeiteten theoretischen Rahmen. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass Inhalte des heutigen Fachs Gehörbildung innerhalb von anderen Unterrichtsformaten ihren Platz fanden. Eine Folge daraus ist, dass die Gehörbildung im deutschsprachigen Raum erst gegen Ende dieser Zeit als selbständiges Fach definiert wurde. Dies gilt selbst für die romanischen Länder, wo der verwandte, aber nicht deckungsgleiche Fach solfeggio, solfège oder solfeo bereits eine lange Tradition aufweisen konnte. So zeigt sich gerade auch in der Art der Hörerziehung das viel besprochene Spannungsfeld zwischen Musikausbildung innerhalb und ausserhalb der Konservatorien. Die vier Teilnehmenden am Panel werden kurze Fallstudien zur Geschichte der Gehörbildung aus ihrem jeweiligen Forschungsbereich vorstellen.
Ablauf
- Meidhof Nathalie (15 Min.):
«devenir bon musicien, et savoir solfier». Musiktheorie und Gehörbildung in Pariser Instrumentalschulen zu Beginn des 19. Jahrhunderts am Beispiel von Ferdinando Carullis «Solfèges avec accompagnement de guitare très facile» - Roberts, Claire (15 Min.):
Frühe Druckausgaben von Zingarellis Solfeggi als Schlüssel zum Verständnis der pädagogischen Funktionen von Zingarellis Autograph-Solfeggi - Zirwes Stephan (15 Min.):
Zur Ausbildung des Gehörs im deutschsprachigen Raum in der ersten Hälfte des 19. Jh. - Ramos, Luis (15 Min.):
Die Real Capilla de Música und die Real Colegio de Niños Cantores de Madrid: Neapolitanische Lehrtraditionen in Spanien. - Diskussion
Biografie
Claudio Bacciagaluppi (Promotion 2008 in der Musikwissenschaft in Freiburg i.Ue.) ist Mitarbeiter der Arbeitsstelle Schweiz des RISM und der Hochschule der Künste Bern. Seine Forschungsschwerpunkte betreffen die geistliche Musik des Barock in Neapel und in der Schweiz, sowie die Aufführungspraxis und die Musikausbildung im frühen 19. Jahrhundert. Er ist Mitherausgeber von Musico Napolitano, ein biografischer Online-Index der Musiker*innen in Neapel. Er ist Autor von zwei Büchern: «Rom, Prag, Dresden: Pergolesi und die Neapolitanische Messe in Europa» (Kassel, 2010) und «Artistic Disobedience. Music and Confession in Switzerland, 1648–1762» (Leiden, 2017). Seine Ausgabe von Pergolesis Messe in D-Dur ist in der neuen Gesamtausgabe bei Ricordi erschienen (Mailand, 2015).
Meidhof, Nathalie
«devenir bon musicien, et savoir solfier». Musiktheorie und Gehörbildung in Pariser Instrumentalschulen zu Beginn des 19. Jahrhunderts am Beispiel von Ferdinando Carullis «Solfèges avec accompagnement de guitare très facile»
Abstract
Italienische und spanische Gitarristen wie Fernando Sor oder Ferdinando Carulli prägen zu Beginn des 19. Jahrhunderts das Pariser Musikleben entscheidend mit. Sie entfachen die guitaromanie, eine Begeisterung für die neu entwickelte sechssaitige Gitarre. Hierbei entsteht eine große Anzahl an Materialien und Stücken, die sich vor allem an ein Laienpublikum abseits des Conservatoire richten. Darunter findet man auch Lehrbücher, in denen musiktheoretische Inhalte unterschiedlichen Niveaus vermittelt werden, und zwar von allgemeiner Musiklehre, über Solfèges als Sing- und Hörbungen, bis hin zu Harmonielehren.
In meinem Beitrag, der Teil des Panels «Verortung und Geschichte der Gehörbildung im 19. Jahrhundert zwischen Laienausbildung und Konservatorium» ist, möchte ich anhand der «Solfèges avec accompagnement de guitare très facile» von Ferdinando Carulli (1822) zeigen, welche Gehörbildungsinhalte dort vermittelt werden und welche Einsichten in die zeitgenössische Übungspraxis sich herauslesen lassen. Dabei wird deutlich, wie beliebt die in der professionellen Ausbildung gängigen musiktheoretischen Inhalte und Übungen wie Solfèges, Règle de l’Octave in ihrer eigentümlichen Mischung unterschiedlicher Herkunft (Frankreich, Italien, Spanien) waren. Zu fragen ist: Inwiefern trägt dieser Umstand zur Verbreitung der Konzepte bei? Welche Wechselwirkungen bestanden zwischen der Laien- und Konservatoriumsausbildung?
Biografie
Nathalie Meidhof ist Dozentin für Musiktheorie an der Hochschule der Künste Bern und an der Hochschule für Musik Freiburg. Sie ist zudem im Forschungsschwerpunkt Interpretation der HKB tätig. Sie studierte Musiktheorie, Schulmusik, Gitarre und Französisch in Freiburg und an der Schola Cantorum Basiliensis. Sie war Akademische Mitarbeiterin am Musikwissenschaftlichen Seminar der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und Lehrbeauftragte an der Musikhochschule Karlsruhe. Promoviert wurde sie 2014 mit einer Arbeit zu Alexandre Étienne Chorons Musiktheorie.
Roberts, Claire
Frühe Druckausgaben von Zingarellis Solfeggi als Schlüssel zum Verständnis der pädagogischen Funktionen von Zingarellis Autograph-Solfeggi
Abstract
Niccolò Zingarelli (1752–1837) war Opernkomponist, Kirchenmusiker, Lehrer und ab 1813 Direktor des Konservatoriums in Neapel. Als Lehrer hat Zingarelli neben dem Konservatorium auch Privatunterricht erteilt und sein Nachlass an pädagogischen Materialien umfasst das komplette Spektrum der musiktheoretischen Diszipline des Konservatoriums (nach Imbimbo 1821).
Die Solfeggi-Sammlungen in Autograph von Zingarelli umfassen circa 1,300 Solfeggi. Spontane Merkmale der Autographe ermöglichen wertvolle Einblicke in die sonst weitgehend unbekannten Funktionen der Solfeggi, aber der improvisierte Charakter der Sammlungen lässt in den allermeisten Fällen keinen Unterrichtsplan erkennen. Sie zeigen die spontane Unterrichtsimprovisation eines Maestros, der auf den Bedarf seiner einzelnen Schüler einging.
Von den elementaren gesungenen Solfeggi bis zu den komplexen vermutlich gespielten kontrapunktischen Solfeggi scheinen sie Material gewesen zu sein, durch das eine Vertrautheit mit der musikalischen Sprache der Zeit erlernt und geübt wurde. Ein zentrales Unterrichtsthema scheint das Verstehen-Lernen der harmonischen Implikationen einer Melodie gewesen zu sein, was z.B. durch Bassimprovisation zu einer vorgegebenen Melodie geübt wurde.
Es bleibt die Frage, welche Unterrichtsinhalte mit welchen Solfeggi vermittelt und welche Gehörbildungsaspekte dabei trainiert wurden. Und welche Unterschiede lassen sich zwischen den Solfeggi für den Privatunterricht und denen für den Konservatoriumsunterricht festmachen? Bemühungen, die Solfeggi systematisch zu kategorisieren und nach Unterrichtsfunktionen zu gruppieren werden durch die Untersuchung von frühen Druckausgaben unterstützt, die einerseits systematischer sortiert und andererseits jeweils thematisch für ein Zielpublikum veröffentlicht wurden. Dieser Panelbeitrag wird durch den Vergleich einzelner frühen Druckausgaben versuchen Aufschluss über die verschiedenen Unterrichtsfunktionen und Schüler von Zingarellis Solfeggi zu geben.
Biografie
Claire Roberts unterrichtet Gehörbildung und Musiktheorie an der Hochschule der Künste Bern. Sie promoviert an der Staatlichen Hochschule für Musik in Freiburg im Breisgau unter der Betreuung von Ludwig Holtmeier und Claudio Bacciagaluppi. In ihrer Dissertation untersucht sie Methoden und Funktionsweisen der Gehörbildung in der neapolitanischen Konvervatoriumsausbildung um 1800.
Zirwes, Stephan
Zur Ausbildung des Gehörs im deutschsprachigen Raum in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts
Abstract
Während in den italienischen Konservatorien bereits seit dem 16. Jahrhundert eine umfassende und immer professioneller werdende musikalische Ausbildung gepflegt wurde, existierten im deutschsprachigen Raum bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts keine annähernd vergleichbaren Institutionen. Erst ab dem späten 18. Jahrhundert entstanden allmählich Singschulen und nach und nach auch theoretische Anweisungen hierfür, in denen sich die Autoren mit dem Erlernen der elementaren Anfangsgründe der Musik und v.a. auch der grundlegenden Fertigkeiten im Hören und Singen auseinandersetzten. Die bedeutendsten publizierten Anweisungen stammen dabei zweifellos von J. A. Hiller. Daneben oder auch darauf aufbauend entstanden eine Vielzahl weiterer Quellen, wie beispielsweise von J. J. Walder, J. B. Lasser, J. F. Schubert, J. Fröhlich. Einen wesentlichen Stellenwert zu Beginn des 19. Jahrhunderts nehmen die Abhandlungen ein, die sich mit dem pädagogischen Gedankengut J. H. Pestalozzis auseinandersetzen; zu allererst und als Ausgangspunkt wäre hier die Gesangsbildungslehre von M. T. Pfeiffer und H. G. Nägeli zu nennen, die im Jahr 1810 in Zürich (!) gedruckt wurde. Auch, wenn diese theoretischen Abhandlungen in aller Regel an ein Laienpublikum gerichtet und primär nicht für den angehenden professionellen Musiker konzipiert sind, werden – der Tatsache geschuldet, dass es sich neben der Vermittlung von Basiswissen um das Beherrschen grundlegender Fähigkeiten im Hören und Verstehen handelt – besonders aus methodischer Perspektive interessante Vorgehensweisen sichtbar, die auch für die Konzeption in unserer gegenwärtigen Ausbildung in Gehörbildung gewinnbringend wiederverwendet werden können.
Biografie
Stephan Zirwes studierte Klavier und Musiktheorie in Karlsruhe und Basel. Seit 2008 ist er Dozent für Musiktheorie und Gehörbildung an der Hochschule der Künste Bern. Daneben ist er Mitarbeiter im Forschungsschwerpunkt Interpretation, wo er bereits an zahlreichen Projekten zur Musiktheorie im 18. und 19. Jahrhundert beteiligt war. 2015 schloss er seine Dissertation zur Lehre von der Ausweichung in den deutschsprachigen theoretischen Schriften des 18. Jahrhunderts an der Universität Bern ab.
Ramos, Luis
Die Real Capilla de Música und die Real Colegio de Niños Cantores de Madrid. Neapolitanische Lehrtraditionen in Spanien.
Abstract
Kaum eine Institution ist für das spanische Musikleben so wichtig und langlebig wie die Königliche Kapelle von Madrid: Gegründet 1426, pflegt sie über mehrere Jahrhunderte die Kirchenmusik am Hof unter der Schirmherrschaft der königlichen Familie. 1590 wird die Königliche Schule für Sängerknaben als Appendix der Musikkapelle ins Leben gerufen – sie bildete die hohen Stimmen aus und sicherte den Nachwuchs. Viele Alumni konnten sich nach dem Stimmbruch nicht nur als Sänger, sondern auch als Instrumentalisten, Organisten bis zum facetten- wie einflussreichen Posten des Kapellmeisters durchsetzen, sowohl in der Kapelle selbst wie in anderen musikalischen Institutionen. Die Königliche Schule für Sängerknaben blieb somit bis zur Gründung des Konservatoriums 1830 eine der wichtigsten Ausbildungsstätte für Musik im Königreich.
Der spanische Hof wird in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts zunehmend nach dem italienischen Gusto gestaltet, und davon ist die sonst so traditionell gehaltene Kirchenmusik ebenso betroffen. Bemerkenswert ist das Unterrichtsfach «estilo italiano», wodurch die Sängerknaben gezielt in die italienischen Singkunst und Tonsprache eingeführt werden. Abschriften von originalen Übungen aus der neapolitanischen Tradition werden in historischen Inventaren verzeichnet. Manche Kapellmeister aber auch andere Mitglieder übernahmen die Verantwortung, Unterrichtsmaterialien zu verfassen, die zum Teil erhalten sind und bislang wenig Aufmerksamkeit gefunden haben. Welche Inhalte dieser breit gefächerten, ja «integrativen» Ausbildung lassen sich rekonstruieren? Welche Formen der Hörerziehung bzw. welche «impliziten Theorien» lassen sich in den spanischen Varianten vertrauter Übungsformen (solfeos, bajetes, partimenti) ablesen? – ein Fallbeispiel über die Koexistenz mannigfaltiger Lehrtraditionen an der europäischen Peripherie.
Biografie
Luis Ramos studierte Komposition und Flöte in Cali (Kolumbien), Musiktheorie und Gehörbildung in Lübeck und Freiburg (Deutschland). Seit 2016 ist er Lehrbeauftragter für Musiktheorie und Gehörbildung an der Musikhochschule Lübeck. Seit 2017 arbeitet er als Junior Researcher an der Hochschule der Künste Bern an seiner Dissertation über den Einfluss neapolitanischer Lehrmethoden in der Musikausbildung an der Königlichen Kapelle und der Königlichen Schule für Sängerknaben in Madrid.