Ab dem frühen 20. Jahrhundert veranstaltete die Schriftstellerin Natalie Clifford Barney (1876-1972) regelmäßig Literatur-Salonabende in der Pariser Rue Jacob. Im Hinterhof ihres ehemaligen Wohngebäudes befindet sich noch heute Le Temple de L´Amitié, zentraler symbolischer Bezugspunkt für Barney und den Zirkel lesbischer Schrifsteller*innen, der sich um sie gebildet hatte. Während der Tempel der Freund*innenschaft der Öffentlichkeit inzwischen unzugänglich ist, bleibt auch das Schaffen von Barney und ihren Gefährt*innen schwer zu greifen.
Indessen reduzieren nicht wenige »geschwätzige Biografien und Memoiren« (Shari Benstock) den um Barney versammelten Freund*innenkreis skandalisierend auf ein ausschweifendes Sexualleben und vernachlässigen die vielfältigen Querverbindungen zwischen feministischem Liebesleben und ernstzunehmender künstlerischer Produktion. Zu jenem äußerst produktiven Kreis von Frauen*, mit denen Barney wechselseitig befruchtende Freundschafts-, Liebes- und Arbeitsbeziehungen pflegte, zählte auch Nadine Hwang, Jurist*in, Ex-Colonel der chinesischen Armee und Cross-Dresser*in. In den 1930er Jahren besuchte Hwang regelmäßig Barneys Salon, bevor sich ihre Wege im Zuge des Zweiten Weltkrieges auf das Krasseste trennten: Natalie Clifford Barney hielt sich während des Krieges im faschistischen Italien auf, während Nadine Hwang im Mai 1944 aus ungeklärten Umständen ins Konzentrationslager Ravensbrück deportiert wurde.
Katharina Aigner nimmt diesen wenig schillernden, kaum beachteten und äußerst brüchigen Faden in ihrer künstlerischen Spurensuche auf. Im Kontext eines umfassenderen Forschungsprojektes zum lesbischen Künstler*innen-Zirkel um Barney skizziert Aigner für ihre Präsentation in der Raumstation die Geschichte von Nadine Hwang anhand konkreter Orte, Bezüge aus Literatur und Film und mittels eigener Recherchen. Nadine Hwang und ihre Bezugspunkte zu Barneys Salon bleiben dabei spuk- und lückenhaft. Doch Opakheit und Unvollständigkeit sind der Nährboden queerer Geschichte(n), ermöglichen differenzierende Re-Lektüren und die Sorge darum, dass uns das Gestern auch heute und morgen weiter unruhig bleiben lässt.
Kuratiert von Ines Kleesattel; in Zusammenarbeit mit Max Heinrich und Helvetia Leal; mit freundlicher Unterstützung des Institute for Cultural Studies in the Arts, ZHdK.