Post_koloniale Theorie beschäftigt sich mit der historischen Kolonisierung sowie fortwährenden Prozessen der Dekolonisierung und Rekolonisierung. Kolonisierung wird dabei nicht nur als Besetzung und ökonomische Ausbeutung von Territorien verstanden, sondern als Konstruktions- und Formationsprozess, an deren Ende schliesslich «Europa» und seine «Anderen» stehen. Sie umfasst auch epistemische Gewalt – also Denken und Sprechen, das gewaltsam wirkt (Spivak 1999: 205). Post_koloniale Theorie betrifft nicht nur die Länder, die Kolonien hatten oder welche waren. Vielmehr sind heutige globale Machtverhältnisse von der Kolonialgeschichte und von weiterwirkenden kolonialen Diskursen geprägt – es geht darum, diese post_kolonialen Verhältnisse zu untersuchen und zu verändern (vgl. für den schweizerischen Kontext Purtschert et al. 2012; David et al. 2005; Fässler 2005; Stettler et al. 2004; vgl. auch Steyerl/Rodríguez 2003).
Unter dem Begriff der Post_kolonialen Theorie werden sehr unterschiedliche Theoretiker_innen zusammengefasst – hier seien mit Edward Said (2009[1978]), Gayatri Chakravorty Spivak (1988; 1999) und Homi K. Bhabha (1994) nur drei der prominentesten Figuren genannt. Theoretisch beeinflusst zeigt sich der Post_kolonialismus vor allem durch marxistische und poststrukturalistische Ansätze, wobei sein Zugang interdisziplinär ist. Poststrukturalistische Theorien sind die Basis für die Dekonstruktion essentialistischer und eurozentristischer Diskurse. Dabei werden scheinbar klare Oppositionen wie Inklusion-Exklusion, Kolonisator-Kolonisierter, Okzident und Orient, auf die sich Erzählungen und Repräsentationen zum Beispiel kultureller Differenz stützen, hinterfragt. Aus poststrukturalistischer Perspektive wird die kulturelle Produktion als integraler Teil gesellschaftlicher Prozesse von Differenzierung, Exklusion, Inklusion und Regeln aufgefasst. Dieser Ansatz ist interessiert an dem, was Repräsentation verhüllt und nicht an dem, was sie enthüllt. Die marxistische Perspektive nimmt die internationale Arbeitsteilung und die aktuellen Prozesse des Neokolonialismus und der Rekolonisierung in den Blick. Post_koloniale Theorie gilt als die kontinuierliche Verhandlung dieser beiden scheinbar gegensätzlichen Herangehensweisen (Castro Varela/Dhawan 2015).
Post_koloniale Kritik muss, folgen wir Spivak, auch immer als «Kritik an Strukturen, die zu bewohnen wir uns nicht nicht wünschen können» sein. Dies bedeutet, die Idee einer Kritik «von Aussen» aufzugeben und stattdessen die eigene Position kritisch reflektieren und nach Möglichkeiten der Veränderung suchen (vgl. auch Critical Whiteness Studies).
Diese Auseinandersetzung mit der Post_kolonialen Theorie macht deutlich, wie wichtig die Bekenntnis und Anerkennung der eigenen Verstrickung im kolonialen Machtgefüge ist. Es geht darum, die daraus entstandenen Privilegien zu erkennen, zu hinterfragen und zu untergraben, um dekolonisierende Praktiken zu entwickeln. Privilegien machen den Anschein, natürlich zu sein und bleiben insbesondere durch diejenigen, die davon profitieren, uneingestanden und nicht anerkannt (Ahmed 2012). Der Prozess der Deprivilegierung ist deshalb zentral für eine dekoloniale Perspektive. Dekoloniale Ansätze beinhalten die Entwicklung eines kolonialen Gedächtnis und der grundlegenden Infragestellung von Identität und Identitätspolitik, indem lokale, spezifische Lebenserfahrung der modernen Universalität entgegengestellt werden und nach Überlebensstrategien gesucht wird, nicht nur im physischen Sinne, sondern auch im Bereich des Wissens, der Verbindung zur Natur, des Umgangs mit dem Anderen (Quijano 1997).
Indem nicht-eurozentrisches Wissens und ein verflochtenes Denken privilegiert wird, fordern dekoloniale Perspektiven bestimmte moderne Behauptungen heraus: Die Vernunft (aufklärerisch-europäischen Zuschnitts) ist nicht die einzige Form, die Welt zu verstehen und zu beschreiben; es gibt keine Trennung zwischen Mensch und Natur; das Geistige muss nicht vom Politischen/Sozialen getrennt erlebt werden; und Fortschritt darf niemandem aufgezwungen werden. Sie streben anti-systemische Politiken ohne Identitätspolitik und kritischen Kosmopolitismus anstelle von Nationalismus und Kolonialismus an: Es geht darum, eine eurozentrische Modernität zu verwerfen und trotzdem wichtige Inhalte dieser Modernität zu verwenden (Bhambra 2014: 138; Schlenker 2012; Grosfoguel 2011: 9). In diesem Sinne sieht sich das IAE nach María Lugones und Spivak auch verpflichtet, Koalitionen des Widerstands und des Zusammenhalts zu bilden um Hierarchien der Unterdrückung über lokale Wissensproduktionen entgegenzuarbeiten (Lugones 2011).
Literatur
- Ahmed, Sara, On Being Included. Racism and Diversity in Institutional Life, Durham: Duke University Press 2012.
- Bhabha, Homi K., The Location of Culture, London/New York: Routledge 1994; dt. Die Verortung der Kultur, Tübingen: Stauffenburg 2000.
- Bhambra, Gurminder K, Postcolonial and Decolonial Reconstructions, in Dies., Connected Sociologies, London: Bloomsbury, S. 117–140.
- Castro Varela, María do Mar/Dhawan, Nikita, Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung (2., komplett überarbeitete und erweiterte Auflage), Bielefeld: transcript 2015.
- David, Thomas/Etemad, Bouda/Schaufelbuehl, Janick Marina, Schwarze Geschäfte: die Beteiligung von Schweizern an Sklaverei und Sklavenhandel im 18. und 19. Jahrhundert, Zürich: Limmat Verlag 2005.
- Fässler, Hans, Reise in Schwarz-Weiss: Schweizer Ortstermine in Sachen Sklaverei, Zürich: Rotpunktverlag 2005.
- Grosfoguel, Ramón, Decolonizing Post-Colonial Studies and Paradigms of Political-Economy: Transmodernity, Decolonial Thinking, and Global Coloniality, in Transmodernity: Journal of Peripheral Cultural Production of the Luso-Hispanic World, 2011 (zuletzt aufgerufen: 7.7.2017).
- Lugones, María, Toward a Decolonial Feminism, in Hypatia 25(4), 2011, S. 742–59.
- Purtschert, Patricia/Lüthi, Barbara/Falk, Francesca (Hg.), Postkoloniale Schweiz. Formen und Folgen eines Kolonialismus ohne Kolonien, Bielefeld: transcript 2012
- Quijano, Aníbal. The Colonial Nature of Power and Latin America’s Cultural Experience, in Briceño-León, Roberto / Sonntag, Heinz R. (Hg.) Sociology in Latin America. Proceedings of the ISA Regional Conference for Latin America 1997.
- Said, Edward, Orientalism, New York: Penguin 1978. Deutsche Ausgabe: Orientalismus, Frankfurt a.M.: S. Fischer, 2009.
- Schlenker, Alex, Kolonialität, Dekolonialität und Decolonial Aesthetics, in Heimatkunde – Migrationspolitisches Portal der Heintrich Böll Stiftung 2012 (zuletzt aufgerufen: 7.7.2017).
- Spivak, Gayatri Chakravorty, Can the Subaltern Speak?, in: Cary Nelson/Lawrence Grossberg (Hg.), Marxism and the Interpretation of Culture, Basingstoke: Macmillan 1988, S. 271–313. Für eine ausführlich kommentierte Übersetzung dieses Aufsatzes vgl. Dies., Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und Subalterne Artikulation, Übersetzung Alexander Joskowicz/Stefan Nowotny, Wien: Turia + Kant 2008.
- Spivak, Gayatri Chakravorty, A Critique of Postcolonial Reason. Toward a History of the Vanishing Past, Cambridge MA: Harvard University Press 1999.
- Stettler, Niklaus/Haenger, Peter/Labhardt, Robert, Baumwolle, Sklaven und Kredite: die Basler Welthandelsfirma Christoph Burckhardt & Cie. in revolutionärer Zeit 1789–1815, Basel: Peter Merian Verlag 2004.
- Steyerl, Hito/Rodríguez, Encarnación Gutiérrez (Hg.), Spricht die Subalterne deutsch? Migration und postkoloniale Kritik, Münster: Unrast 2003.