Schwerpunkt des Projekts ist die Interpretation von Musik im Kontext der klassischen Musik. Dem liegt die These zugrunde, dass das Musikwerk ästhetisch überdeterminiert ist und dass sein Potential daher nur durch eine Pluralität verschiedener (teilweise ästhetisch unvereinbarer) Interpretationen aktualisiert werden kann.
1. Kurzbeschreibung
Das Projekt beschäftigt sich mit einer Deutung des Begriffs der musikalischen Interpretation, in der zunächst der interpretative Pluralismus als eine in der musikalischen Praxis (zumindest im Bereich der klassischen Musik) akzeptierte Tatsache beschrieben wird. Dies wird als De-facto-Fragestellung betrachtet. Zweitens wird diese Tatsache durch die Analyse des Verhältnisses zwischen Partitur und Interpretation deduziert und dadurch gerechtfertigt (De-jure-Fragestellung). Schließlich wird die These vertreten, dass der Interpret der klassischen Musik eine mäeutische Rolle spielt, indem er ästhetische Dispositionen des Musikwerks aktualisiert.
2. Die vier Forschungsrichtungen
Das Projekt entwickelt sich in vier Forschungsrichtungen:
a. Die musikalische Richtung: Es basiert unter anderem auf Analysen von Interpretationen und Partituren, die als Beispiele genommen werden, um das entsprechend entwickelte Argument zu stützen. Der Anspruch ist unter anderem, die vermutete Kluft zwischen Theorie und Praxis zu überwinden: Einerseits soll die Theorie einen bottom-up-Ansatz übernehmen, um nicht eine mechanische Anwendung theoretischer Paradigmen zu sein. Andererseits soll die Konfrontation mit der Praxis nicht in einer Art von Kunstjournalismus enden, sondern dazu dienen, Begriffe und Denkweisen zu entwickeln, die neue Einsichten in diese Praxis ermöglichen können.
b. Die interpretative Richtung: Die Ergebnisse der Analyse sollen Thesen umfassen, die die Rolle des musikalischen Interpreten und des Interpreten in Aufführungskünsten allgemein betreffen. Der Anspruch besteht darin, interpretativen Pluralismus und hermeneutische Normativität zusammen koexistieren zu lassen und zu rechtfertigen. Die Tatsache, dass ein Musikwerk auf verschiedene, teilweise gegensätzliche Weisen interpretiert werden kann, bedeutet nicht, dass alles und jedes angenommen werden sollte. Es gibt a-posteriori Kriterien, um eine Interpretation als nicht gelungen zu bewerten, aber solche Kriterien implizieren nicht, dass ein Musikwerk auf eine ideelle Weise interpretiert werden kann.
c. Die künstlerische Richtung: Die Analyse soll unter anderem eine Rechtfertigung für die ästhetische Mehrdeutigkeit des Musikwerks formulieren, die potenziell auch auf andere ästhetische Bereiche, insbesondere in Bezug auf Aufführungskünste und weitere Musikgenres, angewendet werden kann. Der letzte Teil der geplanten Publikation wird sich genau auf diesen Schwerpunkt konzentrieren.
d. Die ästhetische Richtung: Das Projekt soll einerseits den Unterschied zwischen musikalischer Interpretation und musikalischer Performance sowie zwischen musikalischer Interpretation und musikalischem Verständnis behaupten und rechtfertigen. Andererseits soll die ästhetische Mehrdeutigkeit des Musikwerks (siehe oben) durch eine besondere Ausprägung des ästhetischen Realismus gerechtfertigt werden, in dem die Notion von Potenzialität und Aktualisierung eine Hauptrolle spielt. Beide Aufgaben besitzen eine gewisse Relevanz innerhalb der gegenwärtigen ästhetischen Forschung.
3. Zielgruppe
Die vier Forschungsrichtungen des Projekts sind entsprechend für vier Zielgruppen an der ZHdK potenziell relevant:
a. Musikinterpreten, die sich mit konkreten Beispielen musikalischer Interpretationen befassen können, um damit auch auf ihre eigene hermeneutische Praxis reflexiv einzuwirken.
b. Interpreten aus anderen Kunstbereichen, die aus den genannten Analysen Anstöße zur Überlegung der Funktion und Modalität der Interpretation in ihren Kunstbereichen ziehen können.
c. Künstler (besonders im bereich der Aufführungskünste), welche das Verhältnis zwischen Kunstwerk und mögliche Interpretationen durhc eine pluralistische, dochr normativ geregelte Auffassung betrachten können.
d. Ästhetische und kunstphilosophische Forscher, die aus den genannten Analysen Anstöße zur Rolle der Interpretation in der Kunst ziehen können.
4. Ergebnisse
Ich plane in drei Richtungen zu arbeiten:
a. Veröffentlichungen: Das Hauptergebnis dieses Projekts wird eine Monografie in englischer Sprache sein, die eine ausgearbeitete Theorie der musikalischen Interpretation darstellt. Darüber hinaus werden weitere Beiträge und Artikel Themen und Thesen des Projekts präsentieren.
b. Veranstaltungen: Die hier entwickelten Themen und Thesen sollen in verschiedenen internationalen Veranstaltungen vorgestellt werden.
c. Zusammenarbeit mit anderen Institutionen (zum Beispiel dem Musikwissenschaftlichen Institut der UZH und/oder der Universitäten Bern und Basel).
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