Im Ausgang von Haraways Epistemologie der »Situierten Wissen« formuliert das Posdoc-Projekt eine Situierte Ästhetik. Zwischen philosophischer Ästhetik, kunstbezogener Kulturanalyse und experimenteller Theoriepraxis lotet diese die Bedingungen und Möglichkeiten von diversitäts- und verflechtungssensibler ästhetischer Forschung aus.
Das Projekt einer Situierten Ästhetik macht sich zum Ausgangspunkt, was für feministische Epistemologien und Science-and-Technolgy-Studies mit Haraways »Situated Knowledges« (1988) längst zum Allgemeinplatz wurde – in der ästhetischen Theorie aber nur wenig Nachhall fand: Wissenspraktiken sind in Raum und Zeit verortet, »durch die Sicht von einem Körper aus« partial perspektiviert und prekär verstrickt. Die ästhetischen und poietischen Implikationen einer solchen materialistisch-feministischen Epistemologie aufgreifend formuliert mein Postdoc-Projekt eine Situierte Ästhetik.
Transdisziplinär verknüpft das Projekt philosophische Ästhetik, kunstbezogene Kulturanalyse und experimentelle Theoriepraxis, um die Bedingungen und Möglichkeiten von diversitäts- und verflechtungssensibler ästhetischer Forschung zu untersuchen und zu fragen: Welche konzeptuellen und theoriepraktischen Konsequenzen ergeben sich für eine ästhetische Theorie aus der materiellen (soziohistorischen und mehr-als-menschlichen) Situiertheit jedes Wahrnehmens?
Auf theoretischer Ebene legt das Projekt eine differenzorientierte Neufassung der sogenannten »Relationalen Ästhetik« vor. Entgegen der von Bourriaud (1998) formulierten, kunsfeldzentrierten und homogenisierenden, Variante unternimmt es einen aktualisierenden Rückgang auf Guattaris Ökosophie. In Verbindung damit werden konkrete Situationen einer Relationalen Künstlerischen Forschung (von knowotiq und Constant) im Kontext von feministisch-dekolonialen Epistemolgien (Haraway; Tuhiwai-Smith) und Philosophien planetarischer Relationalität (Glissant; Stengers; Povinelli) diskutiert.
Eine Situierte Ästhetik, wie ich sie vorschlage, soll dem Umstand Rechnung tragen, dass ästhetische Praktiken stets von heterogenen Situierungen in translokalen wie transtemporalen Verstrickungen geprägt sind. Entgegen einer »reinen« Ästhetik Kant’scher Prägung und den wissenschaftlichen wie künstlerischen Disziplinierungen der europäischen Moderne geht eine Situierte Ästhetik davon aus, dass wir als »Erdlinge in dichter Kopräsenz« stets unrein und uneins sind; aus Zellen und Geschichten »zusammengeflickt, und deshalb fähig zur Verbindung mit anderen und zu einer gemeinsamen Sichtweise ohne den Anspruch, jemand anderes zu sein« (Haraway 2016 u. 1988). Eine situierte Ästhetik impliziert so eine unabgeschlossene Polyphonie von situierten Ästhetiken im Plural.
Ich lese Haraway über den Science-and-Technology-Kontext hinaus als ästhetische Theoretikerin – und Praktikerin –, weil sie sich auf zweierlei Weise mit Ästhetik befasst: Mit Metaphern wie dem Blick oder der Perspektive betont sie zum einen, dass Wissenspraktiken an Sinnesorgane gebunden sind. Zum anderen interveniert sie mit unkonventionellen Bildern, Figurationen und Narrationen poetisch aktiv in Wissenskonstruktionen. Haraway weist Wissen dabei als materiell-semiotische Praktiken aus, d.h. als ästhetische Praktiken, in denen materielle Sinnlichkeit und semiotisches Sinn-Machen wechselseitig aufeinander bezogen sind. Wahrnehmungen und Artikulationen nehmen ihr Material ebenso rezipierend aus der Welt, wie sie auch produktiv auf deren Aktualisierungen rückwirken (vgl. auch Stengers 2013 u. 1997). Haraway schlägt deshalb vor, der Welt nicht länger nach dem Modell aufklärerisch-kolonialer »Entdeckung« zu begegnen, sondern in Responsivität und Konversation. Auch in Glissants »Poetik der Relation« ist es die globalhistorische und mehr-als-menschliche Welt selbst, »die sich erzählt« (frz. »relater«) – in kollektiver und in sich differentieller Hervorbringung (»poiesis«).
Eine relational situierte Poetik meint also weniger ein Schreiben über die materiell verstrickte Welt als vielmehr mit ihr. Für das Projekt einer situierten Ästhetik ergibt sich damit eine auch theoriepraktische Problemstellung: Wie lässt sich weniger über differenz- und verflechtungssensible Ästhetiken schreiben als vielmehr sinnlich responsiv mit multiplen materiell-semiotischen Akteuren und innerhalb co-konstitutiver Konversationen?
Auch als Theoretiker*innen sind wir mit partialen Perspektiven und prekären Körpern situiert – und deshalb fähig zur Verbindung mit anderen. Für eine situierte Ästhetik heißt das womöglich, dass sie sich stärker als akademische Theoriebildung bislang in mehrstimmigen Erzählungen üben muss; innerhalb von Unreinheiten, Unterbrechungen und Begegnungen, die immer wieder verunsichern, welches »wir« da wahrnimmt, schreibt oder spricht.
Kooperationspartern*innen des Projekts sind das Künstlerduo knowbotiq (Zürich/Berlin), Karin Harrasser (Linz) und das DFG-Netzwerk Anderes Wissen in künstlerischer Forschung und ästhetischer Theorie.