Man wünscht sich rationale, daten- und faktenbasierte Entscheidungen, legt Strategien und Ziele fest - und wenn dann alles anders herauskommt als erwartet, klopfen sich die Entscheidungsträger auf die Schulter und rühmen ihre Intuition, die sie für ein besonderes persönliches Talent halten. Mit Unvorhergesehenem, mit dem «improvviso» umzugehen, will aber gelernt sein und ist keine Ausrede, sondern eine Kunst. Die zugehörige Tätigkeit nennt sich Improvisation, gehört im musikalischen Feld zum Tagesgeschäft und wird dort allerorten praktiziert.
Nicht weniger als 45 Angebote zur musikalischen Improvisation finden sich im Vorlesungsverzeichnis der ZHdK. Sie decken einen breiten Bereich der Bildungsbedürfnisse ab: Die Interpretation barocker Musik etwa verlangt nach historisch begründeten Erweiterungen der überlieferten Notentexte. Für den Jazz ist die Improvisation seit jeher existenziell. Auf der Orgel sind aus der liturgischen Praxis über die Jahrhunderte spektakuläre improvisatorische Kunstformen entstanden, die noch immer mit hohem Anspruch gepflegt werden. In der sogenannten «klassischen» Musik werden zwar vorwiegend notierte Töne wiedergegeben, doch die Schulung von formalen Dynamiken, von Interaktion, Hören und Reagieren im freien Zusammenspiel unterstützt wesentlich die Souveränität im Umgang mit einem gegebenen Repertoire. Und selbstverständlich sind die spielerischen Aspekte des Improvisierens in pädagogischen Kontexten zentral.
Nicht alle lassen sich unbeschwert auf das Musizieren ohne Netz ein. Manuela Keller lehrt die Vermittlung von Improvisation an der ZHdK und unterrichtet an Musikschulen. Sie findet, dass die angewandten Lehrmethoden oft zu wenig an Improvisationserfahrungen in den Musikschulunterricht einfliessen lassen: «Die hoch spezialisierten Instrumentalist:innen, die von aussen in Masterprogramme kommen, haben oft Schwierigkeiten damit, Musik aus dem Moment zu erfinden. In meinem Kurs hat es auch Studierende aus der Schulmusik, die sind für Impro viel offener». Mattia Scheiwiller ist einer von ihnen und bestätigt den Eindruck. Angefangen hat er als Kompositionsstudent; schon damals hat er die Freiheit des Improvisierens genossen: «Man vergleicht sich weniger mit den anderen. Man spielt, man spricht darüber, dann spielt man wieder. Man verliert die Angst davor, in neue Territorien vorzustossen oder nicht gut genug zu sein. Man ist einfach da und spielt».
Wer aber seinen Musik-Bachelor an der ZHdK absolviert, kommt nicht an der Entwicklung improvisatorischer Skills vorbei. In der einen oder anderen Art gehören sie in allen Majors zum Pflichtunterricht und werden bereits bei den Aufnahmeprüfungen getestet. Einer der Dozierenden ist Lucas Niggli, Schlagzeuger und seit 15 Jahren mitverantwortlich für die Kurse der «Klassik». Seit Kurzem unterrichtet er auch eine Jazz-Klasse. Ausserdem hat er einen Advanced Improvisers Pool aufgebaut, der sich zunehmender Nachfrage auch unter Master-Studierenden erfreut. Ihm ist der Hinweis wichtig, dass die freie Improvisation kein neuer Inhalt, sondern seit rund 40 Jahren Teil der Zürcher Musik-Curricula ist: «Anfangs war sie noch ein Freifach, wurde dann aber schnell zur Pflicht. Man hatte erkannt, dass Musiker:innen mit Improvisationserfahrung ein feineres Sensorium für das Blending innerhalb der Kammermusik, für das Wahrnehmen der eigenen Stimme im Gesamtsound haben. Das hatte eher praktische als schöpferische Gründe: Impro als Gehörbildung. Die Wahrnehmungsverfeinerung ist ein grosses Plus».
Einst war sie ein neues Element in der heroischen Avantgarde des letzten Jahrhunderts, heute ist die freie Improvisation in den Performances längst etabliert. Dabei hat sie Ansprüche an Stimmigkeit und Präzision entwickelt, die jenen der komponierten Musik nicht nachstehen und im Gruppenunterricht grosse Offenheit, Ehrlichkeit und kommunikative Sorgfalt einfordern: Nirgends entlarvt sich aufgesetztes Posieren schneller als beim spontanen Gespräch mit musikalischen Mitteln. Lucas Niggli kann dabei seine Erfahrung als international gefragter Musiker einbringen und wirkt womöglich auch als Rollenmodell für Jüngere. Die Saxofonistin Gemma Galeano etwa hat sich nach ihrem Instrumentalstudium ganz der Improvisation verschrieben: «Es war für mich eine Offenbarung und quasi ein therapeutisches Erlebnis. Ich litt unter psychischen Problemen. Freies Spielen ermöglichte es mir, zu kreieren, die Gedanken abzustellen und ganz im Hier und Jetzt zu sein. Seither habe ich die Interpretation notierter Musik hinter mir gelassen.» Eine erfolgreiche Bühnenlaufbahn ist die Folge ihrer Entscheidung.
Dass das Interesse der Studierenden signifikant zugenommen hat, stellt auch Andreas Böhlen fest. Er unterrichtet als Professor für Blockflöte nicht nur die forschungsbasierte stilgebundene Improvisation historischer Musik, sondern folgt als Jazzsaxofonist auch jener Tradition, die das musikalische 20. Jahrhundert am nachhaltigsten revolutioniert hat. Für ihn ist Improvisation auch eine Haltung: «In der Impro lernt man, Verantwortung für das musikalische Geschehen zu übernehmen.» Und für den Umgang mit der Freiheit, wäre zu ergänzen. Denn berechenbar ist wenig und am Ende zählt die Wahrheit des Augenblicks.