Das Projekt untersucht Ästhetiken des Tröstlichen und der Untröstlichkeit im Angesicht der Shoah. Es untersucht die Zeugnisse der Mitglieder des Sonderkommandos in Auschwitz-Birkenau, die historischen Romane Anna Seghers', die Philosophien Theodor Adornos und Hans Blumenbergs sowie das Lebenswerk Ilse Aichingers. Diese Autor:innen proklamieren in Antwort auf die Shoah eine konstitutive Untröstlichkeit, ohne dabei die menschliche Trostbedürftigkeit zu vergessen. Die Shoah bedeutet auch eine Zäsur in der Geschichte der Gefühle – mit der sich auch Politiken und Ästhetiken verschieben.
Das Forschungsprojekt untersucht Ästhetiken des Tröstlichen und der Untröstlichkeit im Angesicht der systematischen Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden durch das nationalsozialistische Deutschland. Es führt in ausschlagenden Wirkungskreisen vom Zentrum der Shoah in die Gegenwart: in den Krematorien Auschwitz-Birkenaus ansetzend, führt es über die Flucht- und Migrationsrouten sowie die bundesdeutsche Nachkriegsgesellschaft ins Heute. Gegenstand der Untersuchung sind die zwischen Zeugnis, Literatur und Theorie oszillierenden Ausdrucksformen unterschiedlich Betroffener. Dabei handelt es sich um die literarisch-dokumentarischen Zeugnisse der Mitglieder des Sonderkommandos in Auschwitz-Birkenau Salmen Gradowski und Lejb Langfuss; um die historischen Romane von Anna Seghers; um die philosophischen Arbeiten Theodor W. Adornos und Hans Blumenbergs; sowie um das gattungsübergreifende literarische Lebenswerk Ilse Aichingers. Das Schreiben dieser Autor:innen hat gemein, dass es in Antwort auf die Shoah eine konstitutive Untröstlichkeit proklamiert, gleichzeitig aber die Trostbedürftigkeit menschlichen Lebens nicht vergisst. Diese Spannung führt zu je eigenen Artikulationen dessen, was ich als „schwachen Trost“ bezeichne. Die Zäsur des Holocaust bedeutet auch eine Zäsur in der Geschichte der Gefühle – mit der sich wiederum auch Politiken, Ästhetiken und Praktiken verschieben, wie diese Fallgeschichten zeigen.
Im Sinne einer kulturwissenschaftlichen Ästhetik geht es in den Fallstudien um eine Überkreuzung und Verknotung von Wissensgebieten wie der Zeugenschaftstheorie, ästhetischen Theorie, Holocaust-Studien und Gefühlsgeschichte. Dabei sind folgende Untersuchungsfragen leitend: Wie transformiert sich die Gefühlsgeschichte von Trost und Untröstlichkeit im Angesicht der Shoah – d.h. wie verändern sich Konzepte, Ausdrucksweisen und Intensitäten dieser Gefühle? Welche politischen Wertigkeiten kommen Trost und Untröstlichkeit zu – wie werden sie von den Nationalsozialisten zur Täuschung, von der Nachkriegsgesellschaft zur Verdrängung oder von den Betroffenen für Widerstand und Überleben gebraucht? Welche neue Lesart der ästhetischen Theorie und Praxis wird möglich, wenn man sie von einem durch die Shoah geprägten schwachen Trost her denkt?
Die Fallstudien konstellieren Gefühlsgeschichte, ästhetische-testimoniale Praktiken und Theorien sowie die Politiken von Widerstand und Überleben um das Spannungsfeld von Trost und Untröstlichkeit. An die genuin ästhetische Fragestellung nach der (Un-)Vorstellbarkeit der Shoah soll angeknüpft werden mit der wenig beachteten Frage, wie sich genozidale Gewalt, Widerstand und Überlebenden für die Betroffenen angefühlt haben. Gefühle werden hier im Sinne der Forschung aus dem Umfeld des Affective Turn (Sianne Ngai, Laurent Berlant und Ann Cvetkovich) und der Gefühlsgeschichte deutschsprachiger Provenienz (Ute Frevert, Frank Biess) nicht als individuelle Erfahrung, sondern als sozial kodiert verstanden. Das bedeutet, dass sich Gefühle in Geschichte und Biografie wandeln können, dass sie bedingt durch Materialisierungen und Symbolisierungen sind, dass sie Erinnerungen speichern, zwischen Akteur:innen zirkulieren und dass sie essentiell für Politik und Ästhetik sind – auch in ihrer Abwesenheit, Schwächung oder Verneinung. Die These des Projektes lautet, dass die historische Erfahrung des Holocaust zur Entwicklung eines „schwachen“ Trostes geführt hat. Dieser schwache Trost wird quer durch die Fallstudien nicht als heilend oder wiedergutmachend konzipiert, sondern als eine jeweils eigen nuancierte Art und Weise, der Untröstlichkeit der Shoah eine auch politische Differenz einzuschreiben. In diese Differenz haben Betroffene Bindung ans Leben trotz allem gefunden, sich Leid und Verlust vergegenwärtigen können und es durch ästhetische Formen bezeugen können.