Obwohl sie auf dem Weg zur Professorin ist, hat sie nie aufgehört, Studentin zu sein. Die Fragen, die Marie-France Rafael ihren Studierenden stellt, will sie auch selbst beantworten und lernt dabei jeden Tag dazu: «Ich merke, dass Studierende manchmal Angst haben vor dem Schreiben oder der Theorie. Aber es gibt weder den perfekten Text noch das gänzliche Verständnis beim Lesen», so Rafael, die unter anderem «Schreiben als kreative Praxis» unterrichtet. Es sind genau solche Diskurse, die sie herausfordern und mit denen sie sich im Unterricht auseinandersetzen will. Marie-France Rafael ist in München geboren, hat an der Pariser Sorbonne Angewandte Filmwissenschaft und an der Freien Universität Berlin Kunstgeschichte und Filmwissenschaft studiert. Rafael, deren Nachname jüdisch-ungarisch ist, besitzt einen rumänischen und einen amerikanischen Pass und spricht vier Sprachen fliessend. Für die ZHdK kam die Mutter eines kleinen Sohnes 2019 nach Zürich, um die erste Tenure-Track-Position der Hochschule als Dozentin «Kunst im Kontext» anzutreten. Die Position ist auf eine Dauer von vier Jahren festgelegt. Bei positiver Evaluation wird Rafael für die Professorinnenstelle «Kunst im Kontext» bestätigt.
Lernen, mit Kritik umzugehen
«Die Theorie ist meistens viel enger mit der künstlerischen Praxis verbunden, als viele Studierende denken», ist Rafael überzeugt. Deswegen will sie in ihren Seminaren aktuelle Entwicklungen der Kunst im Kontext sozioökonomischer und politischer Bedingungen beleuchten. So behandelt sie das Thema «Image Production» mit Videoarbeiten des französischen Künstlers Brice Dellsperger, in denen er ausgewählte Szenen bekannter Spielfilme nachstellt und alle Rollen, ob männlich oder weiblich, von seinen «Body Doubles» spielen lässt. «Gerade normative Narrative werden gerne mittels Bildern vermittelt. Ich sehe meine Aufgabe darin, diese Mechanismen aufzuzeigen und die Studierenden zu ermutigen, mit ihrer künstlerischen Praxis aktiv gegenzusteuern», sagt Rafael. Die Studierenden beschäftigen sich mit Identität, Gender oder hegemonialen Strukturen. Sie wollen wissen, wie sie sich positionieren können, sie wollen verstehen, wie ihre Kunst wahrgenommen wird, und sie wollen lernen, mit Kritik umzugehen. «Ich möchte eine Atmosphäre schaffen, in der sich Studierende offen mitteilen und wir in ständigem Austausch sind. In kleinen Gruppen zu arbeiten, ist ein Luxus», sagt Rafael. Die Diskussionen wurden in letzter Zeit pandemiebedingt online geführt, die Studierenden schalteten sich von überallher zu – maskentragend aus dem Toni-Areal oder mit Zigarette von einem privaten Gartensitzplatz. Die Umstellung aufs Digitale bot viele Chancen, wie sich Rafael erinnert: «Ich hatte eine Exkursion zur Bukarest-Biennale geplant, die ich nicht absagen wollte. Stattdessen haben wir die Stadt virtuell erkundet und Gäste auf Zoom eingeladen, beispielsweise den rumänischen Performancekünstler Manuel Pelmuş.»
Kunst als Reflexions- und Kommunikationsmittel
Die Corona-Pandemie hat unser Verständnis für Technologie und Digitalität verändert. Als Mitglied des Digitalrats beschäftigt sich Rafael mit der Zukunft der ZHdK. Um diese mitzugestalten, denkt sie lieber aus der Zukunft in die Gegenwart statt umgekehrt: «Ich finde es spannender zu fragen: ‹Was kann ich jetzt besser machen?›, als: ‹Was werde ich besser machen können?›», erklärt sie ihre Denkrichtung. Nebst ihrem Engagement im Digitalrat und in der Lehre ist Marie-France Rafael als Forscherin tätig. Ihre diesbezüglichen Schwerpunkte sind die Geschichte des Ausstellens sowie die künstlerischen Strategien des Präsentierens von Kunst als Reflexions- und Kommunikationsmittel. Eines ihrer aktuellen Projekte handelt von postdigitaler Relationalität: Was geschieht, wenn Produktion, Zirkulation und Konsumation der zeitgenössischen Kunst immer mehr verschmelzen? Wenn es so weit kommt, dass sie gar nicht mehr voneinander abzugrenzen sind? Wird es noch rein analoge oder rein digitale Kunst geben? Und inwieweit führt diese Ununterscheidbarkeit zu einem künstlerischen Arbeitsprozess? Für Rafael ist klar: «Eine sich in der Praxis realisierende Theorie hervorbringen und herstellen: Das ist für meine Arbeit als Dozentin und Forscherin zentral.»
TENURE TRACK
Der Begriff Tenure Track bezeichnet den Karriereweg im Hinblick auf eine Professor:innenstelle. Die Position dient der Qualifizierung in Lehre und Forschung sowie in Leitungs- und Koordinationsaufgaben und hat das Ziel, in eine Professur an der ZHdK zu münden. Die befristete Anstellung von mindestens 80 Prozent mit je mindestens 20 Prozent in Forschung und Lehre ist besonders für erfahrene Nachwuchsforschende attraktiv.