Das Forschungsprojekt bringt eine historische Momentaufnahme zum Schweizer Schuhdesign hervor, die das Ineinanderwirken verschiedener Einflüsse kritisch aufzeichnet – von der Frage nach der Eigendynamik modischen Begehrens (auch oder gerade in Kriegszeiten) über kreative Anreize in der Gestaltung durch materielle Beschränkung bis zu wirtschaftshistorischen Fragen versuchter Einflussnahme auf Produktion und Konsum.
Schuhe sind weit mehr als eine funktionale Umhüllung des menschlichen Fusses: Sie haben Anteil daran, dass und wie wir den Raum erfahren [1]; sie informieren – intendiert oder unbewusst – über persönliche Vorlieben und physische Verfassung, gesellschaftlichen Status, kulturelle Verortung, Geschlechterdefinitionen und deren Interpretationen. Als zentraler Bestandteil der materiellen Kultur [2] werden umgekehrt historische, gesellschaftliche sowie kulturelle Veränderungen und Brüche auch am Schuh und den ihn umgebenden Praktiken deutlich. Dennoch sind wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit dem Gegenstand Schuh als einem kulturhistorisch bedeutsamen, materiellen wie zeichenhaften Objekt bislang rar. [3]
Das Forschungsprojekt «Vielfalt vs. Mangel: gestalterische und wirtschaftliche Herausforderungen in der schweizerischen Schuhindustrie, 1930–1950» am Institute for Cultural Studies in the Arts der Zürcher Hochschule für Künste widmet sich diesem kulturwissenschaftlichen Desiderat und stellt das modische Objekt «Schuh» und, eng damit verbunden, das Archiv der Firma Bally und die sich darin manifestierende Geschichte ins Zentrum. Die 160-jährige Firmengeschichte ist in mehrfacher Hinsicht für die schweizerische Schuhindustrie symptomatisch: In den Schuhmodellen und Ephemera, die das Firmenarchiv dokumentiert, haben sich wirtschaftliche Entwicklungen ebenso wie zeittypische Ideale niedergeschlagen – von der Materialverwendung und Formgestaltung bis zur Image-Generierung durch Werbung.
Untersucht wird der Zeitraum von 1930 bis 1950. In diesem historischen Abschnitt, der die Zäsur durch den Zweiten Weltkrieg einschliesst, fanden entscheidende Umbrüche in Wirtschaft, Kultur und Politik der Schweiz statt, die sich auch in der Geschichte der Firma Bally niedergeschlagen haben. Die Entwicklung des Schuhdesigns innerhalb dieses Zeitabschnitts ist geprägt durch widerstreitende Kräfte und ist – kulturwissenschaftlich betrachtet – von symptomatischer Relevanz. Vom modehistorischen Standpunkt aus zeichnen sich diese Jahre hinsichtlich gestalterischer Vielfalt, handwerklicher Qualität und technischer Innovation aus. Die Mangelsituation während des Zweiten Weltkriegs führte zu Materialexperimenten und technischen Innovationen, die sich mittelbar und unmittelbar mit Kultur- und Zeitgeschichte sowie den wechselnden ökonomischen Gegebenheiten verbinden lassen.
Das Forschungsprojekt beabsichtigt eine historische Momentaufnahme zum Schuhdesign, die das Ineinanderwirken verschiedener Einflüsse kritisch aufzeichnet – von der Frage nach der Eigendynamik modischen Begehrens (auch oder gerade in Kriegszeiten) über kreative Anreize in der Gestaltung durch materielle Beschränkung bis zu wirtschaftshistorischen Fragen versuchter Einflussnahme auf Produktion und Konsum. Die wechselseitigen Beziehungen dieser Einflussgrössen auf das Schuhdesign sind nicht kausal zu separieren, sondern erfordern eine transdisziplinäre Zugangsweise, welche die Relationen erkennbar werden lässt. Dem Anliegen der Cultural bzw. Fashion Studies folgend, wird das Forschungsprojekt mittels einer exemplarischen Vertiefung in vier Themenfeldern (Schuhe und Krieg; Abendschuhe; Militärschuhe; Lenkung von Produktion und Konsum) konkretisieren, wie die zahlreichen Schuhentwürfe im Bally-Archiv als spezifische Zeitzeugnisse lesbar werden können. Ziel des Forschungsprojekts ist, im Rahmen eines Pilotprojekts eine umfassende wissenschaftliche Aufarbeitung des nahezu unerschlossenen Bally-Archivs und einen differenzierten Beitrag zur Kulturgeschichte des Schuhs zu leisten.
Das Projekt endet mit einer Tagungsphase (1. November 2014 bis 31. Januar 2015) und der Tagung «Schuhe. Designprodukt, Alltagsding, Forschungsgegenstand» (6.-8. November 2014).
Publikation:
Schlittler, Anna-Brigitte / Tietze, Katharina (Hg.): Über Schuhe. Zur Geschichte und Theorie der Fußbekleidung, transcript Verlag, Bielefeld, 2016
[1] Riello/McNeil 2006, S. 3.
[2] Sudrow 2010, S. 12.
[3] Benstock/Ferriss 2001, S. 3f.