Annina Maria Jaggy: Was reizt dich daran, interdisziplinär zu arbeiten?
Charlotte Hug: Ich denke interdisziplinär, seit ich mich erinnern kann. Mit vier Jahren spielte ich Geige wie mein Grossvater, der Violinist im Tonhalle-Orchester Zürich war. Daneben sang und zeichnete ich meine ganze Kindheit über, übte Jonglieren und Akrobatik und schrieb Theaterstücke mit viel Musik. Später studierte ich sowohl Musik als auch bildende Kunst. – Jedes Medium offenbart andere Inhalte. Ich erforsche eine künstlerische Idee immer sowohl klanglich als auch visuell, räumlich und szenisch, und dies in allen möglichen Konstellationen. Die intermediale Interaktion ist Kern meiner künstlerischen Arbeit und gleichermassen zentral, wenn ich unterrichte.
Wer hat dich auf deinem künstlerischen Weg inspiriert?
Was mich am meisten inspiriert, sind Kollaborationen. Zum Beispiel mit dem Regisseur Jossi Wieler oder im Streichquartett mit Phil Wachsmann, Marcio Mattos und John Edwards. Künstlerischer Nährboden ist auch die Londoner Improvisationsszene. Hier konnte ich mit Pionieren der Improvisation wie Phil Minton, Evan Parker oder Maggie Nichols zusammenarbeiten. Inspiration entsteht oft auch durch Herausforderung. Für den Kompositionsauftrag des Rova Saxophone Quartet von Larry Ochs aus San Francisco erlernte ich eine interaktive musikalische Notation, mit der das Quartett arbeitet. Diese war so potent, dass ich sie in den folgenden Jahren für intermediale Kontexte zur «Interaction Notation» erweitert habe. Sie ist auch in der Arbeit mit Studierenden sehr fruchtbar.
Du selbst hast auch eine eigene Notation entwickelt, die «Son-Icons». Was bedeuten diese Klangzeichnungen für dich?
Klängen genau nachzuhorchen ist meine Passion. Ich will den Klängen aber noch näher kommen, sie berühren und anschauen. So zeichnete ich in Konzerten oder in der U-Bahn sitzend jede Schwingung fast seismografisch mit den Händen auf. Das waren die Anfänge der Son-Icons. Später zeichnete ich imaginierte Musik und deren Strukturen auf. So entwickelte ich eine Kompositionsmethode, mit der ich musikalische Werke in intermediale Kontexte überführte. Die Son-Icons sind auch eigenständig als bildende Kunst erlebbar. Sie wurden auf mehreren Kontinenten in Galerien, Off-Spaces und Museen gezeigt.
Im Frühling 2017 warst du Artist in Residence von Pro Helvetia in Shanghai. Welchen Einfluss wird die zeitgenössische chinesische Kunst auf deine Arbeit in Europa haben?
Mein Thema für die Residency in China war «Son-Icons in the Middle Kingdom». Ein künstlerischer Forschungsschwerpunkt war Kalligrafie in ihren multiplen Erscheinungsformen und den damit verbundenen Denkstrukturen. In der zweiten Hälfte der Residenz war ich Artist in Residence und Teaching Artist an der China Academy of Art in Hangzhou, einer der wichtigsten Kunsthochschulen Chinas. Dort gab ich Workshops und realisierte eine Einzelausstellung. Die Ausstellung wurde durch Konzerte, Tanz sowie ein Symposium immer wieder neu belebt.
Du bewegst dich als Künstlerin und Dozentin auf internationalem Parkett – was bedeutet dir die Lehrtätigkeit an der ZHdK?
Ich liebe es, zu unterrichten, den Studierenden zuzuhören und mich in ihre Visionen und Projekte einzudenken. Mir ist es wichtig, ein Kernthema aus vielen Perspektiven zu beleuchten und zu gestalten. Mit den Studierenden ihre Ideendiamanten zu reflektieren und ihnen das Rüstzeug zu geben, diese zu schleifen oder mit Überzeugung auch roh zu zeigen. Die Begleitung solcher künstlerischer Prozesse ist mir neben der eigenen künstlerischen Arbeit immer wichtiger geworden. Die ZHdK empfinde ich als einen lebendigen Ort kreativen Schaffens, lebendig vor allem auch zwischen den Disziplinen.
Die ZHdK bietet ab Anfang 2018 unter deiner Leitung einen neuen Studiengang CAS Creation & Scenario in Music an – was können die Teilnehmenden erwarten?
Die Weiterbildung bewegt sich in den Zwischenräumen von Musik, Klang und Performance in intermedialen, szenischen Kontexten. Der international ausgerichtete, berufsbegleitende Studiengang richtet sich an Musiker und Profis aus verschiedensten Disziplinen. Genau richtig sind hier Persönlichkeiten, die künstlerisches Neuland entdecken und eigene Ideen in einem intermedialen Kontext realisieren möchten. Wer inhaltlich mehr wissen will, kann mich sehr gerne kontaktieren.
CAS Creation & Scenario in Music
Die Fähigkeit, zwischen Improvisation, Komposition und musikalisch-szenischen Ansätzen flexibel und kompetent zu navigieren, rückt in der aktuellen Musikpraxis immer stärker in den Fokus. Der praktisch-künstlerische Weiterbildungsstudiengang umfasst zudem verwandte künstlerische Ausdrucksmittel wie Lichtkomposition, Körpersprache, Szenografie, Zeichnung, Video und elektroakustische Medien. Er bietet Inputs aus Theorie und Praxis, individuelles Coaching sowie Spielmöglichkeiten.