Panzersperren wurden in den 1990er-Jahren gemeinsam mit weiteren Festungsbauten für die Raumverteidigungsstrategie der Schweizer Armee obsolet. Insgesamt über 13.000 Objekte wurden mit der Armeereform „Armee 95“ nach dem Ende des Kalten Krieges liquidiert. Die ausgemusterten Bunker und Panzersperren standen im „kurzen 20. Jahrhunderts“ nicht nur für ein militärisches Dispositiv, sondern symbolisierten als Objekte der Schweizer Landschaft auch ein bestimmtes nationales Selbstverständnis der Wehrhaftigkeit und Unabhängigkeit. Die Liquidation wurde von der interdepartementalen Arbeitsgruppe «Natur- und Denkmalschutz bei militärischen Kampf- und Führungsbauten» begleitet, welche die Festungsbauten inventarisierte und nach denkmalpflegerischen und ökologischen Kriterien klassifizierte. Parallel zur Denkmalwerdung der Festungsbauten kam es in der Schweiz zu intensiven geschichtspolitischen Debatten über das Verhältnis „Schweiz – Zweiter Weltkrieg“, was zu einer Neupositionierung des Landes zur eigenen Vergangenheit führte.
Diese historische Situation schuf eine Deutungsoffenheit gegenüber den obsolet gewordenen Festungsbauten, welche das Dissertationsprojekt als Ausgangspunkt nimmt, um nach der Geschichte und dem Bedeutungswandel der Panzersperren seit ihrer Ausmusterung zu fragen. Während die Bunker schon bald das Interesse der Wissenschaft und Kunst weckten, blieben die Panzersperren als sichtbare aber unprätentiöse Objekte in der Schweizer Landschaft oft unter dem Radar der Neugierde. Trotzdem haben sich unterschiedliche Akteur:innen die Panzersperren alltagspraktisch und teilweise auch finanziell angeeignet, wie bspw. Naturschutzorganisationen, Gemeinden, Festungsvereine, die Denkmalpflege, Landwirte, Künstler:innen oder Nachbar:innen.
Dem Wandel im Umgang mit den Panzersperren seit ihrer Ausmusterung gehe ich in Bezug auf drei forschungsleitende Perspektiven nach: Geschichte, Landschaft und Materialität. Erstens besitzen die Panzersperren als materielle Überbleibsel potenziell eine historische Bedeutung, die von den Akteur:innen durch ihre Praktiken und Erzählungen angerufen werden kann oder nicht: Dienen die Panzersperren als materielle Gedächtnisspeicher, die bei den Akteur:innen spezifische Erinnerungen hervorrufen? Bringt der Anblick eher assoziativ vom Objekt unabhängige historische oder kulturelle Reminiszenzen hervor? Oder werden die Panzersperren durch die Akteur:innen mit neuen Geschichten überschrieben? Wie überlagern sich in den Erzählungen Vergangenheitsbezüge mit gegenwarts- und zukunftsbezogenen Perspektiven und vice versa? Wenn bspw. eine allfällige Musealisierung der Objekte als Kulturerbe durch gegenwärtige Objektpflege geprägt auf das Bewahren in der Zukunft gerichtet ist.
Zweitens sind die Panzersperren als Objekte in der Landschaft in Eigentums- und Rechtsverhältnisse eingebunden und werden von unterschiedlichen Akteur:innen genutzt. In ihren Praktiken, wie bspw. der Objektpflege, der ökologischen Aufwertung, der spielerischen Aneignung oder künstlerischen Umdeutung, zeigen sich unterschiedliche Zugänge, die zueinander unbehelligt oder konfliktuös verlaufen können. Wenn Jugendliche Baumhütten bauen, Künstler:innen ein Replikat als Skulptur ausstellen, Festungsvereine sich für den Erhalt einsetzen oder neue Eigentümer:innen ein Abbruchgesuch stellen, werden unterschiedliche Interessen oder soziale Positionen der Akteur:innen sichtbar. Der Bedeutungswandel der sperrigen Relikte seit den 1990er-Jahren wird von denen ausgehandelt, die mit, in und neben den Panzersperren leben.
Durch ihre spezifische Materialität und räumliche Präsenz haben die Panzersperren drittens auch eine landschaftsprägende und ästhetische Bedeutung. Die ehemaligen militärhistorischen Sperrlinien werden heute zu Verbindungsachsen für Tier und Pflanzen durch das besiedelte und bewirtschaftete Land. Sie eröffnen einen Raum für neue Nutzungen oder schliessen durch ihre Linearität auch Flächen voneinander ab. In ihrer Materialität lassen sie mit Pflanzen, Tieren, Menschen und anderen Bauten bestimmte Beziehungen zu und andere nicht. Und als formal-ästhetische Element regen sie Künstler:innen wie Nachbar:innen an, um die Panzersperren über ästhetische Praktiken neu zu re- und entkontextualisieren. Sei es indem sie von Olivier Mosset als „perfekte Land Art“ bezeichnet oder von Nachbar:innen als Accessoire in die Gartengestaltung einbezogen werden.
Als Gegenwartsgeschichte der Panzersperren konzipiert, verbindet das Dissertationsprojekt methodisch zeithistorische mit ethnografischen Zugängen und hat als Teil des künstlerisch-ethnografischen SNF-Forschungsprojektes „Materialisierte Erinnerungen (in) der Landschaft“ eine transdisziplinäre Ausrichtung. Mittels Interviews, Gesprächen und (Video-)Spaziergängen, Beobachtungen und Feldnotizen sowie Archivbesuche und Quellenanalyse fragt es, wie und von wem die Panzersperren angeeignet und umgenutzt wurden, und wie sich der Umgang mit den (jungen) Relikten seit den 1990er-Jahren gewandelt hat? Die letzten dreissig Jahren werden als Übergangsphase mit einer gewissen Deutungsoffenheit verstanden, in der unterschiedliche Akteur:innen mit ihren Praktiken und ihrer Vielstimmigkeit die miteinander verschränkten historischen, gegenwärtigen und zukünftigen Bedeutungen der Panzersperren aushandeln.
Betreuung:
Prof. Dr. Damir Skenderovic, Universität Freiburg
Dr. Sønke Gau, Zürcher Hochschule der Künste
Anbindung:
Die Dissertation ist am Departement für Zeitgeschichte an der Universität Freiburg angegliedert. Sie entsteht im Rahmen des Forschungsprojekts Materialisierte Erinnerungen (in) der Landschaft an der Zürcher Hochschule der Künste, das vom Schweizerischen Nationalfonds finanziert wird (2019-2023).
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