Für die meisten Forschenden des Instituts für Biomedizinische Ethik und Medizingeschichte (IBME) der Universität Zürich beginnt der Tag mit einem Kaffee. Danach schlagen sie ihre Bücher auf, schreiben Texte oder diskutieren ihre Forschungsprojekte. So weit, so alltäglich. Seit April 2019 jedoch schreibt sich ein Künstler in die Routinen des Instituts ein. Johannes Willi hat eine Ausschreibung des artists-in-labs program (AIL) der Zürcher Hochschule der Künste, des IBME und des Zentrums für Schmerzmedizin Nottwil gewonnen. Deshalb sitzt er nun in einem Büro des Instituts an seinem Arbeitstisch und erzählt von ersten Ideen für das Projekt.
«Das Unsichtbare erfahrbar machen – Schmerzpatient_innen und ihre Erzählungen» lautete das Thema der Ausschreibung. Chronische Schmerzen betreffen mehr als 1 Million Menschen in der Schweiz und stellen ein wachsendes gesellschaftliches Problem dar. Da die Ursache für diese über Jahre anhaltenden Schmerzen oft nicht (mehr) feststellbar ist, entsteht im Alltag und zwischen den Betroffenen, ihren Freunden, Angehörigen und Ärztinnen eine Vermittlungskrise. Die Künste können dafür vielfältige Ausdrucksformen und Übersetzungen finden, andere Perspektiven eröffnen sowie neue Fragen stellen. Willis sechsmonatige Residency steckt denn auch ein breites Feld ab: Von der thematischen und methodischen Recherche über Gespräche mit Forschenden am IBME bis zum Austausch mit Ärztinnen und Patienten des Zentrums für Schmerzmedizin hat der Künstler Zugang zu unterschiedlichsten Thesen und Infrastrukturen.
Eine kreative Komplizenschaft
Seit mehr als 15 Jahren mischt das AIL mit seinen Aktivitäten an der Schnittstelle von Kunst und Wissenschaft im Feld der Transdisziplinarität mit. Kern dieser Aktivitäten bilden die Residencies – mehrmonatige Aufenthalte für Kunstschaffende in Forschungsgruppen renommierter Institutionen in der Schweiz und weltweit. Die Möglichkeit, sich über längere Zeit mit Protagonistinnen anderer Disziplinen auszutauschen, hat auch Johannes Willis Interesse geweckt. «Mit meiner Arbeit versuche ich Menschen so mit meiner Kunst zu verweben, dass sie zu Komplizen der Werke werden», sagt er und macht sich auf den Weg in die Bibliothek des Instituts.
Komplize – ein vielschichtiger Begriff, der sich durchaus auf die Philosophie des AIL beziehen lässt. Denn bevor sich die Ergebnisse eines Projekts materialisieren und über Ausstellungen, Publikationen oder Filme präsentiert werden können, geht es um die Begegnungen der Beteiligten. Es geht um ihre Gemeinsamkeiten und Überschneidungen, Abgrenzungen und Widersprüche und das Spannungsverhältnis, das sich daraus ergeben kann und soll – ihre kreative Komplizenschaft. Für Johannes Willi ist es erst mal eine Expedition ins Ungewisse. Und wie ein Forscher geht er deshalb auch vor.
Ein Institut im Institut
An einem Dienstagmorgen wird das Gewächshaus angeliefert: Ein Gerüst aus Aluminium trägt milchige Plexiglasplatten, ein erwachsener Mensch kann darin aufrecht stehen. In der Bibliothek des Instituts schraubt Willi es zusammen, richtet es sparsam ein und setzt sich auf einen Gymnastikball. Es ist von nun an sein Institut im Institut, das «Institut Indiskret». Hier plant er als Erstes eine Gesprächsreihe, und im Lauf der Zeit soll es überwuchern mit Notizen, Objekten und Ideen, die sich während der Residency ansammeln. Die Rolle des Aussenseiters in seiner neuen Umgebung nimmt er dabei als Quelle der Inspiration und als Moment der Ermächtigung wahr. Als Künstler könne er etwas aufzeigen, das nicht in die Logik der Institution passe, sagt er. Wie mit seiner Multimediainstallation an den Swiss Art Awards im Juni 2019, an der er bereits vor der Residency zu arbeiten begonnen hatte. Ärztinnen und Pflegende des Zentrums für Schmerzmedizin Nottwil reisten nach Basel, wo sie gemeinsam mit Willi die nominierte Arbeit des Künstlers besichtigten und diskutierten. Sie besteht aus zwei grossen, sich gegenüberstehenden Bildschirmen, die durch eine Halfpipe verbunden sind. Das eine Video zeigt Willi beim Besuch einer Therapiestunde bei einem Osteopathen. Dabei trägt der Künstler ein Affenskelett wie eine Marionette vor sich her. Das andere zeigt Schimpansen im Zoo Basel. Willi thematisiert das Verhältnis des Menschen zu seinem nächsten Verwandten und schafft komplexe Bezüge zwischen Wissenschaft, Macht, Schaulust und Spiel – und stellt nicht zuletzt unseren oftmals institutionalisierten Blick auf die Welt infrage.
Über solche Begegnungen soll die Residency einen Prozess des wechselseitigen Austauschs ermöglichen. Bestehendes Wissen wird geteilt, überdacht und neu kontextualisiert, Ideen werden hin und her gespielt und daraus neue Ansätze in Kunst und Wissenschaft entwickelt. In vielen Projekten des AIL ist dieser gemeinsame Arbeitsprozess auch der Ausgangspunkt einer langfristigen, über die ursprüngliche Projektdauer hinausgehenden Zusammenarbeit; Konzerte, Performances, Teilnahmen an Gruppenausstellungen oder Konferenzen gehören dazu. Zudem sind aus Residencies praxisbasierte künstlerische PhDs hervorgegangen. Zur Nachhaltigkeit trägt die Rückbindung an die ZHdK bei. Regelmässig finden Präsentationen aktueller oder ehemaliger artists-in-labs im Toni-Areal statt, und Studierende bringen sich in Projekte des AIL mit ein. Einen Bezug zur ZHdK hat auch Johannes Willi: Er ist nicht nur Alumnus der Vertiefung Trends & Identity, sondern seit einigen Jahren auch in der Lehre tätig. Und so treffen im Herbstsemester 2019 die Inhalte und Ideen aus seiner Residency auf jene von Studierenden.
Eine Spinne auf der Jagd nach Momenten
Wieder ist es Dienstagmorgen, diesmal im Zentrum für Schmerzmedizin Nottwil, das dem Schweizer Paraplegiker-Zentrum angeschlossen ist. Willi nimmt an einem Gruppentreffen nicht deutschsprachiger Schmerzpatientinnen teil. Die Probleme und Fragen sind komplex, die Kommunikation schwierig, der Ausgang unklar. Eine Situation, die dem Künstler liegt. Er reagiert darauf mit Intuition: «Meine Arbeit nährt sich aus den Begegnungen – ich treffe eine Ärztin oder einen Patienten, tausche mich mit ihnen aus, und wir gehen wieder getrennte Wege. Wie eine Spinne trage ich Momente zusammen und bringe sie ins Nest. Daraus wird langsam ein grosses Ganzes, von dem ich noch nicht weiss, wohin es mich letztlich führen wird.»