Pathos / Passibilität
Herausgeber des Bandes: Jörg Sternagel, Michael Mayer
Menschliche Existenzen konstituieren sich im pathos (πάθος), das heißt im Widerfahrnis, in ethischen und aisthetischen Dimensionen singulärer Beanspruchung und erfahrener Passivität, in sinngebenden Setzungen, wider Erwarten, im (Er-)Leiden, vom Anderen her gedacht. Der Andere setzt sich in seiner Singularität und fordert Priorität: nicht als Bild meines Denkens, sondern in leiblich situierter Differenz. Weil der Mensch immer schon im nicht überwindbaren Unterschied zu einem Anderen steht, ist er in sich selbst nicht erfüllt, sondern begehrend. Dieses Begehren hebt sich nicht auf, sondern findet sich in der Übernahme von Verantwortung wieder, im Geben. Ein Geben, dem ein Nehmen und Nehmenkönnen noch vor allem Dank und aller Dankbarkeit entspricht, dem die bloße Bereitschaft zu nehmen und anzunehmen korrespondiert, bevor ich erkenne und überhaupt erkennen kann, was mir von wem wie und unter welchen Konditionen und mit welchen Erwartungen auch immer gegeben worden ist. Passibilität umschreibt somit jenes rätselhafte »Vermögen«, nicht und nichts zu vermögen als nur zu empfangen und für den Empfang empfindlich zu sein. Die Gabe des Anderen fordert so vor den moralischen Regularien der Dankesbekundung das Ethos einer Passibilität heraus, die jedweder Ökonomie von Geben und Nehmen und der ihr inhärenten Logik von Reziprozität und Ausgleich immer schon voraus liegt. Denn der Andere zwingt zum Vergleich des Unvergleichlichen und fordert so Gerechtigkeit ein. Er steht ständig bereits da und kommt jedes Mal zuvor. Er zeigt sich gegenwärtig und unendlich zugleich, existiert konkret und unfassbar, ist kraft seiner Andersheit nahe und unendlich fern. Das Selbst ist vermöge der Alterität des Anderen nicht bei sich, sondern dem Anderen gegenüber immer schon im Rückstand. Die Egozentrik des Selbst verliert sich sukzessive in dieser Alltäglichkeit. Sie besitzt auch im Bereich der Phänomene keinen sicheren Punkt mehr und fordert eine andere Haltung (ethos) ein. Sichtweisen und Perspektiven verschieben sich bereits in der Wahrnehmung (aisthesis) zur Ver-Antwortung.