Yvonne Hachem: Welche Rolle spielen internationale künstlerische Kooperationen in Konfliktgebieten?
Rana Yazaji: Internationale Zusammenarbeit kann für Gemeinschaften, Kunstschaffende und Organisationen von grossem Wert sein, wenn sie auf Solidarität, Durchhaltewillen und gegenseitigem Verständnis basiert. Wir leben in einer zerrissenen Welt. Mit Kunst können wir aber die Einsamkeit der Menschen in Konfliktgebieten und prekären Lebenslagen aufbrechen. Über die Kunst können sie wieder mit ihren direkten und fernen Nachbarn in Kontakt treten. Es hilft, sich vor Augen zu führen, dass die heutige Situation nicht neu ist, sondern sich schon häufig abgespielt hat und wir gefordert sind, nicht in der Opferrolle zu verharren, sondern unsere Handlungsfähigkeit wiederzugewinnen und uns unserer Menschlichkeit wieder bewusst zu werden.
Was prägt das künstlerische Schaffen in Krisenregionen?
In Krisenzeiten verspürt man enorme Spannungen zwischen ästhetisch motivierten Vorgehensweisen sowie sozial und politisch getriebenen Impulsen. Auch Künstler:innen sind gefordert, sich politisch, sozial und ökonomisch zu positionieren. Die Eigenpositionierung in Bezug auf die Kunst kann nicht mehr isoliert betrachtet werden. Es geht nicht mehr nur um politische Meinungen, sondern auch darum, wie Kunstschaffende sich und ihre Arbeit in einem Krisenkontext verstehen. Am Beginn muss aber immer die Eigenpositionierung stehen, sei es in Bezug auf Karriere, Zusammenarbeit oder Wohlbefinden.
Was genau meinst du mit Eigenpositionierung?
Als Künstler:in wagst du dich aus der Komfortzone und verspürst den Drang, dich derart mit deiner künstlerischen Arbeit zu verbinden, dass du Teil der Gesellschaftstransformation wirst, die dir kontinuierlich Fragen abringt und dich zwingt, die Dinge zu hinterfragen. Die Frage, was genau unsere Rolle in der Gesellschaft ist, wird in Krisensituationen zentral.
Aus einer globalen Perspektive gefragt: Mit welchen Erwartungen müssen sich Kunstschaffende in Krisenregionen auseinandersetzen?
Ein Blick zurück in die Geschichte zeigt, dass Künstler:innen in nationalen Krisen, Konflikten oder Kriegen einzig die Rolle des lokalen Redeführers zugestanden wird. Sind sie nicht bereit, diese Rolle auszufüllen, werden sie weder unterstützt noch finden sie ein Publikum, und die Presse lässt sie links liegen. Dieser politische Rollenzwang ist natürlich Zensur, engt also ihren persönlichen Freiraum massiv ein.
«Wir müssen der Gestaltung der Zusammenarbeit die Energie widmen, die sie braucht.» Rana Yazaji in einer Diskussionsrunde mit Studierenden.
Welche Rolle spielen internationale Organisationen?
Internationale Organisationen haben über Jahrzehnte künstlerische Aktivitäten dafür instrumentalisiert, das politische Bewusstsein zu schärfen und sozialen Wandel zu initiieren. Und hat das was gebracht? Ich würde sagen: nicht wirklich oder zumindest stehen Aufwand und Ertrag in einem Missverhältnis. Organisationen und internationale Gemeinschaften müssen begreifen, dass Kunst transformativ ist. Lässt man sie gewähren und wachsen, wird ihre Wirkung weit grösser sein, als wenn man sie einengt. Die Krux liegt in unserer kulturellen Haltung und der internationalen Kulturpolitik, die sich ändern müssen. Zudem müssen sich Organisationen darüber bewusst werden, dass die Kunst und Kunstschaffende tragende Pfeiler der Gesellschaft sind. In der gängigen Kulturpolitik nehmen Bildung, Entwicklung, wirtschaftlich orientierte Selbstbefähigung und Förderung Begabter die Spitzenplätze ein, während Kunst kaum berücksichtigt wird. Wir müssen grundlegend überdenken, wie wir mit Kunst verantwortlich umgehen.
Was braucht die Gemeinschaft der Kunstschaffenden?
Einen fairen Produktionsrahmen und internationale Kooperationen. Die Gründe für die mangelnde Fairness im System reichen in alle Lebensbereiche. Entsprechend komplex ist der Umgang damit. Meiner Meinung nach wächst aber das Bewusstsein dafür, dass wir das institutionelle System und internationale Kooperationsmodelle überdenken und neu strukturieren müssen, um zu einer fairen Praxis zu finden. Einer der Hauptausgangspunkte ist der gute Wille. Häufig sind guter Wille, Solidarität, Unterstützung, Engagement usw. gegeben. Und doch können sich diese auch als schädlich erweisen, da sie historisch bedingt nicht auf einer gleichberechtigten Partnerschaft fussen und deshalb nicht helfen, wenn es darum geht, die Situation global zu verbessern.
Was ist deiner Meinung nach für eine international erfolgreiche Zusammenarbeit nötig?
Sie muss von Beginn an ein Gemeinschaftswerk sein. Transparenz und offene Kommunikation sind zentral, da die Parteien verschiedene Regionen sowie kulturelle Hintergründe und Haltungen vertreten. Der Prozess muss so strukturiert werden, dass er alle Involvierten stärkt. Alle Beteiligten müssen zudem verstehen, dass der Weg nicht linear ist. Kommunikation ist gelegentlich eine schwierige Sache, und dies nicht nur in Bezug auf Sprach- und Verständnisschwierigkeiten, sondern auch auf die Arbeitsmodelle. Wir müssen der Gestaltung der Zusammenarbeit die Energie widmen, die sie braucht. Und natürlich müssen wir uns dieser Situation der Ungleichheit erst einmal in ihren Details bewusst werden.
Welche Bedeutung hat die Kunst in Zeiten tief gehender globaler Verunsicherung?
Das erinnert mich an die Clowns Without Borders. Deren Direktor erzählte mir Folgendes: Die «Clowns» waren auf einer griechischen Insel, um zu helfen, als ein Boot voller Geflüchteter in den Hafen einlief. Einige von ihnen sprangen gleich von Bord und machten im Spiel der Clowns mit. Einer meinte: «Es tut wahnsinnig gut, wieder einmal einfach herzlich zu lachen.» Und dies nachdem er knapp dem Tod entronnen war! Selbst in Extremsituationen geht es also nicht nur ums physische Überleben, da muss mehr sein. Und Kunst kann den Menschen wieder handlungsfähig machen, ihm (s)eine Zukunft zurückgeben, die in den Wirren verloren gegangen ist.